Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 56 (2008) H. 4, S.  585-586

Serhii Plokhy The Origins of the Slavic Nations. Premodern Identities in Russia, Ukraine, and Belarus. Cambridge University Press Cambridge [usw.] 2006. XIX, 379 S., 6 Ktn. ISBN: 0-521-86403-8.

Plokhy zeichnet in seinem lesenswerten Buch die historische Entwicklung von Identitätskon­struktionen bei den Ostslaven (Russen, Ukrainer, Weißrussen) vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert nach. Dabei stellt er weit verbreitete Interpretationen überzeugend in Frage: a) die drei modernen Nationen hätten im Kern eine gemeinsame Identität, da sie alle der mittelalterlichen Wiege der Kiever Rus’ entstammten und sich erst als Folge des Mongoleneinfalls seit der Mitte des 13. Jahrhunderts ausdifferenziert hätten; b) die „kleinrussische“ und die weißrussische Nation seien nur kulturelle oder dialektale Untergruppen, die sich von der russischen Nation abgespalten hätten, und die Kiever Rus’ sei ihrem Wesen nach eine russische Reichsbildung gewesen; und c) spiegelbildlich dazu die ukrainische und belarusische primordiale Konzeption, die Ursprünge der beiden Nationen ließen sich bis in die Zeit der Kiever Rus’ zurückverfolgen und dieses Reich sei genuin ukrainisch oder belarusisch gewesen.

Der Autor wendet sich dagegen, die vormoderne Geschichte der Ostslaven als Präfiguration der Nationalgeschichte zu interpretieren. In der Nationalismus-Debatte positioniert er sich selbst bei den „Revisionisten“. So sieht er die drei ostslawischen Nationen zwar nicht als im Kern schon immer da gewesen an, aber eben auch nicht als „imagined communities“ ex nihilo des 19. und 20. Jahrhunderts. Vielmehr zeichnet er nach, wie sich gewisse Identitätselemente bereits bei den vormodernen kultur- und ethnonationalen Gemeinschaften ausbildeten. Dabei liefert er einige bedenkenswerte Resultate. So wider­legt er die beiden primordialen Theorien, welche die russische oder die ukrainische und belarusische Nation bereits in der Kiever Rus’ angelegt finden wollen. Auch zeigt er, dass zwar auf der Ebene der Eliten der Kiever Rus’ verbindende Elemente (Dynastie, Kirche, Recht) vorhanden waren, dass diese jedoch von lokalen Identitätsprojekten in den politischen Grenzen der einzelnen Teilfürstentümer konkurrenziert wurden (als deutlichstes Beispiel Novgorod). So kann man auch schwerlich wie bei Konzeption a) von einer ursprünglichen Einheit der drei ostslawischen Völker sprechen. Immerhin: Die meisten, wenn auch nicht alle vormodernen ostslawischen Identitätskonstruktionen beriefen sich in der einen oder anderen Weise auf die mittelalterliche Rus’.

Der Autor behandelt bis ins 18. Jahrhundert die Etappen, über die sich Identitätsbestandteile der modernen russischen und ukrainischen Nation formierten. Anders als im Buchtitel suggeriert, wird allerdings der belarusische Weg weitgehend ausgeblendet.

Die Sammlung der rus’ischen Länder legte für Moskau den Grundstein des integrativen imperialen Reichsmodells. Damals wurde das Verfahren eingeübt, fremde Eliten in das eigene, zentralistische Herrschaftssystem zu integrieren, auf die dynastische Loyalität gegenüber dem Moskauer Großfürsten zu verpflichten und fremde sinnstiftende Elemente in den eigenen kulturellen Pantheon aufzunehmen. Nachdem Moskau das „Tatarenjoch“ abgeschüttelt und in der Folge der Union von Florenz eine eigen­ständige Kirchenhierarchie etabliert hatte, verfügte die nordöstliche Rus’ über eine gefestigte Identitätsgrundlage – dank einem einigenden My­thos und durch Distanzierung gegenüber den „Lateinern“ und Konstantinopel. Entscheidend für die Ausformierung der moskowisch-rus­si­schen Identität erwies sich die Zeit der Wirren: Die Loyalität verschob sich damals von der Dynastie auf den überpersonalen Staat; zudem erlebte die Selbstabgrenzung Russlands gegen­über allem Fremden und Westlichen einen Höhepunkt – auch gegenüber den religiös „verderbten“ Ruthenen. Doch waren es genau diese ruthenischen Eliten aus dem Umfeld der Kiever Akademie, die in den Identitätsdiskurs die Idee von der all-russischen historischen Einheit der orthodoxen Ostslavia unter der Protektion des Moskauer Zaren einführten.

Die ostslavischen Bewohner des Großfürsten­tums Litauen entwickelten andere Rus’-Identität(en). Diese scheinen nicht die gesamte litauische Rus’ umfasst zu haben, und sie waren auch keine direkten Vorläufer einer national-belarusischen oder -ukrainischen Identität. Viel­mehr orientierten sie sich zuvorderst am alten Her­kommen und einmal mehr an den Grenzen der historischen Länder, deren Struktur Litauen konservierte. Die polnisch-litauische Rus’ durch­lebte seit der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts einen intensiven, religiös konnotierten Iden­titätsdiskurs. In deren Zuge bildete die ruthenische Gesellschaft ein ethnonational-religiös – nicht durch Dynastie und Staat – definiertes Selbstverständnis aus, welches sich von der polnischen und der litauischen (Adels‑)Nation abgrenzte und im Widerstand gegen die Union weite Gesellschaftsschichten in die ruthenische Nation integrierte (mit Ausnahme der Bauernschaft). Erst in der Kosakenzeit entstanden Geschichtsbilder und Mythen eines spezifisch als „ukrainisch“ anzusehenden Selbstverständnisses. Die modernen ukrainisch-nationalen Identitätsprojekte konnten diese seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert aufgreifen. Aber diese sind nicht mehr Gegenstand der erhellenden Ausführungen von Plokhy.

Christophe von Werdt, Bern

Zitierweise: Christophe von Werdt über: Serhii Plokhy: The Origins of the Slavic Nations. Premodern Identities in Russia, Ukraine, and Belarus. Cambridge University Press Cambridge [usw.] 2006. XIX, ISBN: 0-521-86403-8, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 56 (2008) H. 4, S. 585-586: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/von_Werdt_Plokhy_The_Origins_of_the_Slavic.html (Datum des Seitenbesuchs)