David Feest Zwangskollektivierung im Baltikum. Die Sowjetisierung des estnischen Dorfes 1944–1953. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2007. 535 S. = Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 40.

Ist von Sowjetisierung die Rede, können Fragen der Kollektivierung nicht außer Acht bleiben. „Kollektivierung‟ und „Kolchosen‟ gehören zu den wichtigsten Begriffen des Sowjetisierungsprozesses, die nicht nur eine Umgestaltung der Landwirtschaft nach sowjetischem Muster, sondern auch einen tiefgreifenden Umbruch der Lebensweise und Kultur des Dorfes beschreiben. Bei der Sowjetisierung des Baltikums handelt es sich im Hinblick auf die Landwirtschaft um einen Sonderfall, da die Praktiken und Umgestaltungsmechanismen im baltischen Dorf Abweichungen vom direkten und kompromisslosen Übergang zum Kolchossystem aufwiesen. Das Buch von David Feest ist diesen Prozessen in Estland nach dem Zweiten Weltkrieg gewidmet.

Im Zentrum dieser gründlichen, umfassenden Studie stehen zwei Problemkomplexe – Herrschaftspraktiken und Landwirtschaft (Produktion, Infrastruktur, Organisationen). Die Sowjetisierung, so der Verfasser, kann nicht als glatter, geradliniger Vorgang begriffen werden, sondern muss als Prozess angesehen werden, dessen Art und Weise wesentlich von äußeren systemischen Faktoren, von ideologischen Vorgaben und deren subjektiven Interpretationen abhing (S. 26). Deswegen fragt der Autor nach den das Sowjetisierungsverfahren bestimmenden Faktoren, die systemischer Natur waren und die von den örtlichen Bedingungen und Personen abhingen. Die letztgenannten scheinen besonders interessant gewesen zu sein, da sie die traditionellen Vorstellungen über nationale kommunistische Eliten und regionale Kader als willenlose Handlanger Moskaus korrigieren. David Feest stellt die republikanischen und örtlichen Führungskader vor, untersucht deren Zusammensetzung, Bildungsniveau, politische Vergangenheit etc. und analysiert ihre Motivationen, Identitäten und Handlungsmuster, die die politischen Realitäten in der Region wesentlich prägten.

Die lokale Perspektive, die „Sowjetisierung von unten‟ bildet den Schwerpunkt der vorliegenden Untersuchung. Der Autor stützt sich in seiner Studie vor allem auf die estnischen Archivbestände – Dokumente des Zentralkomitees der KPE und der Parteikomitees zweier Gemeinden. Aufgrund dieser Quellen rekonstruiert David Feest einen Kommunikationsraum (Moskau – Tallinn – Gemeinde), in dem die Entscheidungen produziert, interpretiert und umgearbeitet wurden. Trotz der äußeren Kontrolle und ideologischen Auswirkungen kann man im Fall Estlands von eindeutiger Übermittlung und Ausführung zentraler Befehle kaum sprechen. Die dadurch entstandenen Freiräume waren – nach der Einschätzung des Verfassers – kurzfristig, aber „überraschend hoch“. In den ersten Nachkriegsjahren, bis Frühjahr 1947, lassen sich eine „Privatisierung der Machtausübung“ und eine „unfreiwillige Dezentralisierung“ beobachten (S. 28, 276). Die Frage ist, ob diese Freiräume geplante oder mindestens vorhersehbare Folgen der Moskauer Politik waren oder spontan als Initiative vor Ort entstanden, die Moskau zwangsweise vorübergehend akzeptieren musste. David Feest betrachtet die beiden Perspektiven und spricht von einer Phase der „Duldungspolitik“ Moskaus, das versuchte, sich den Realitäten im estnischen Dorf anzupassen. Die Duldungspolitik war, so der Verfasser, mit dem Namen des hohen Parteifunktionärs Andrej Ždanov verbunden und endete nach seinem Tod (S. 436).

In der heutigen Stalinismusforschung ist die Position weit verbreitet, welche die Moskauer Machtkämpfe nach dem Krieg als Konkurrenz zwischen der „liberalen“ und der „konservativen“ Politikrichtung begreift. Allerdings fehlt es solchen Behauptungen an zuverlässiger, quellengestützter Argumentation. Auch gibt es bisher keine Funde in den Zentralarchiven, die eine besondere Stellung Ždanovs gegenüber Estland und Baltikum bestätigen könnten. Sowohl die Duldungspolitik als auch der Kurswechsel zur Kollektivierung 1947 sind eher als eine Position Stalins und der Moskauer Führung und nicht die einer besonderen Gruppe zu betrachten.

Die Situation vor Ort, in den estnischen Landgemeinden, wie sie David Feest detailliert und umfassend beschreibt, erklärt dem Leser bestens, warum Moskau mit der Kollektivierung im Baltikum zögerte. Hierfür gab es vielfältige Gründe wie Kadermangel, Stimmungslagen der Bevölkerung, passiver und aktiver Widerstand gegen die Sowjetisierung, die Krisenlage der Landwirtschaft. Die Haupthemmnisse für die Sowjetisierung lagen aber nicht im bewaffneten Widerstand oder der schwachen Popularität der kommunistischen Ideologie, sondern in Kulturmustern und ‑traditionen der Esten. Diese „andere“ Kultur, deren Träger sowohl die estnische Landbevölkerung, als auch Vertreter der heimischen Führungsschicht waren, ist für die Analyse von Theorie und Praxis der Sowjetisierung ein Schlüsselbegriff. Bei der Beschreibung der nationalen Kulturmuster betont der Verfasser eine besondere Haltung der estnischen Bevölkerung gegenüber dem Eigentum, eine spezifische Eigentumskultur, die den kommunistischen Umgestaltungen – von der Bodenreform bis zur Kollektivierung – im estnischen Dorf entgegenstand.

Die bereits erwähnten Freiräume entstanden ebenfalls im Gefolge traditioneller Kulturmuster wie z.B. der autonomistischen Traditionen der landwirtschaftlichen Genossenschaften. Das Eigenständigkeitsstreben der Genossenschaften war der Grund, warum sie sich für die Kollektivierung nicht engagierten und schließlich aufgelöst wurden, obwohl die republikanische Führung (Nikolai Karotamm) das Kollektivierungsprojekt auf der Basis der alten Genossenschaften zuerst nachdrücklich unterstützt hatte. Die Versuche der Kommunisten, estnische Kultureinrichtungen wie die Volkshäuser für neue propagandistische Zwecke umzugestalten, erwiesen sich ebenso als nicht besonders erfolgreich. Anderseits scheiterten auch die Bemühungen, durch spezifisch sowjetische Einrichtungen wie Sowchosen oder Maschinen-Traktoren-Stationen neue Wirtschafts- und Kulturmuster in Estland durchzusetzen. In der noch existierenden traditionellen Dorfstruktur waren sie, nicht nur in ihrer Produktionsweise, sondern auch kulturell, „Fremdkörper“ (S. 245).

Da sowohl die materiellen als auch die mentalen Bedingungen für Großwirtschaften fehlten, ist es nicht verwunderlich, dass die Kollektivierung trotz des vorhandenen „klassischen“ Sowjetmusters unvermeidlich national eingefärbt war. Der Verfasser zeigt, wie diese estnischen Spezifika bei der Gründung der ersten Kolchosen oder im Umgang mit heimischen Kulaken zur Geltung kamen. Die estnische Führung hatte z.B. einen eigenen Deportationsplan für die Kulaken vorbereitet (interne Deportation), der dem Arbeitskraftverlust und der Massenzuwanderung entgegenwirken sollte, aber von Moskau nicht akzeptiert wurde (S. 411). Die Kollektivierungspraktiken und die damit verbundenen Deportationen und Säuberungen im estnischen Dorf brachten ebenso wie im russischen Dorf nicht nur gegenüber der neuen Politik ablehnende Stimmungen zum Ausdruck, sondern sie spiegelten auch die komplizierten und spannungsvollen Binnenverhältnisse in den Gemeinden und im breiten Parteiapparat wieder. Innere Spannungen entfesselten die Säuberungsdynamik, Gewaltausübung wurde in vielen Fällen zur Privatsache (S. 482). Die Kollektivierung hatte sinkende Arbeitsproduktivität und Arbeitsmoral zur Folge. Sie schuf mehr Probleme als sie lösen konnte – diese Schlussfolgerung des Autors kann kaum angezweifelt werden.

Elena Zubkova, Moskau

Zitierweise: Elena Zubkova über: Anastasia V. Mitrofanova The Politicization of Russian Orthodoxy. Actors and Ideas. With a foreword by William C. Gay. ibidem-Verlag Stuttgart 2005. = Soviet and Post-Soviet Politics and Society, 13. ISBN: 978-3-412-06706-9, in: http://www.oei-dokumente.de/JGO/Rez/Zubkova_Feest_Zwangskollektivierung.html (Datum des Seitenbesuchs)