Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 59 (2011) H.4

Verfasst von: Jan Zofka

 

Kimitaka Matsuzato (naučnyj redaktor): Pridnestrov’e v makroregional’nom kontekste černomorskogo poberež’ja. Sbornik statej [Transnistrien im makroregionalen Kontext der Schwarzmeerregion. Eine Aufsatzsammlung]. Sapporo: Slavic Research Center at Hokkaido University, 2008. 225 S. = 21st Century COE Program; Slavic Eurasian Studies, 18. ISBN: 978-4-938637-47-7.

Der Sammelband des Slavic Research Centers der Hokkaido University im japanischen Sapporo untersucht Situation und Geschichte der Region am Dnjestr („Transnistrien“), die sich im Zerfallsprozess der Sowjetunion von der Republik Moldova abgespalten hat, „im Kontext der Schwarzmeerregion“. Den Beweis, dass eine solche Fragestellung interessant sein kann, treten die meisten Beiträge aber nicht an. Ein Zusammenhang zwischen der Separation Transnistriens und Entwicklungen in anderen Regionen ums Schwarze Meer kommt in der Mehrzahl der Aufsätze gar nicht zur Sprache. Thema ist vielmehr der Transnistrien-Konflikt ganz allgemein. Trotzdem ist der russischsprachige Sammelband für einschlägig interessierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler spannend – nicht zuletzt wegen der Auswahl der Autoren, unter denen sich auch Wissenschaftler aus der Region befinden. Die Perspektiven unterscheiden sich entlang der Konfliktlinie: Ein bis zwei Aufsätze nehmen eine Binnenperspektive ein und beschreiben das Werden der Staatlichkeit Transnistriens, ohne eine Änderung des Status Quo in Betracht zu ziehen. Die große Mehrzahl der Beiträge dagegen sieht es als selbstverständlich an, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Hier wird vorrangig das Thema der „Konfliktregulierung“ behandelt, sei es aus Sicht der Diskussion in Moldova oder einer internationalen Perspektive.

In seiner „Geschichte der Dnjestr-Republik in kurzer Darstellung“ (Istorija PMR v kratkom izloženii, S. 22–61) gibt mit Nikolaj Babilunga einer der führenden transnistrischen Historiker die historische Meistererzählung des nicht-anerkannten Staates wieder. In einem Ritt durch die Jahrhunderte von 2000 v. Chr. bis 2006 n. Chr. begegnen sich zahlreiche Stämme, Völker und Imperien in der Kontaktzone am Dnjestr, bevor – folgerichtig – die multinationale PMR entsteht. Das Thema, das der Titel des Bandes impliziert, taucht nur in Form einer „geopolitischen“ Perspektive auf. Babilunga stützt sich auf den „Klassiker der Geopolitik“ (S. 27) Karl Haushofer, der mit seinen kruden Theorien bereits den Nationalsozialisten Stichworte für ihre Expansionspolitik lieferte. (Tilman Koops Karl Haushofer, in: Handbuch der völkischen Wissenschaften. München 2008, S. 235–238) Mit dessen Hilfe versucht Babilunga eine meta-historische Bedeutung des Dnjestr und der angrenzenden Region als „geopolitischer Grenzraum in Südosteuropa“ (S. 24) zu belegen.

Pëtr Šornikov, ein Historiker aus Chişinău, analysiert die Historiographie in der Republik Moldova zum Krieg um die Separation Transnistriens (Dnestrovskaja Vojna v istoriografii Res­publiki Moldova, S. 62–78). Seiner Meinung nach stehen sich zwei Schulen gegenüber: eine „unionistische“ (auf eine Vereinigung von Moldova und Rumänien ausgerichtete) und eine traditionalistisch-moldauische (Interessen und Eigenstaatlichkeit der Republik Moldova verteidigende). Aus Sicht der Unionisten handelt es sich beim Transnistrien-Konflikt im Kern um eine zwischenstaatliche Auseinandersetzung zwi­schen Moldova und Russland. Moskau habe den Aufbau einer Dnjestr-Republik zur Schwächung des moldauischen Staates schon zu Sowjetzeiten geplant. Die „Moldovenisten“ machen dagegen die pro-rumänische Politik der damaligen Republikführung und nationalistische Mobilisierungen in Chişinău für die Separation der Dnjestr-Region verantwortlich. Eine dritte Gruppe führt Šornikov erst später ein, obwohl er deren Standpunkte zu teilen scheint. Die Historikerund Historikerinnen, die „die Interessen der Nicht-Titularbevölkerung vertreten“ (S. 66), sehen in der Abspaltung eine gerechtfertigte Reaktion auf diskriminierende Sprach­gesetze, die im August 1989 rumänisch zur einzigen Staatssprache machten, obwohl zumindest im urbanen Raum der Großteil der Kommunikation auf Russisch ablief.

Dmitrij Čubašenko, der Chefredakteur der wichtigsten russischsprachigen Zeitung des liberalen, westorientierten Spektrums in Moldova, beschreibt, warum die Verhandlungen zur Regulierung des Transnistrien-Konflikts auch während der Regierungszeit der Kommunistischen Partei (2001–2009, hier beobachtet bis 2006) nicht vorangekommen sind (Otnošenija meždu Moldovoj i Pridnestrov’em pri Voronine, S. 79–98). Die PCRM hat ihre anfänglich verhandlungsbereite Position gegenüber der transnistrischen Führung wie auch ihre außenpolitische Russland-Orientierung im Laufe der Präsidentschaft Voronins aufgegeben. Nach dem Scheitern des von Moskau eingefädelten Kozak-Plans zur Regulierung des Konflikts 2003, das Čubašenko allein der Intervention des Westens zuschreibt, lagen die Verhandlungen zwischen Tiraspol’ und Chişinău darnieder. Die moldauisch-russländischen Beziehungen fanden in den Folgejahren ihren Tiefpunkt mit einem Wirtschaftsboykott durch Moskau. Auch nach der Erholung blieb die europäische Integration Moldovas Staatsräson und somit auch Position der (2009 abgewählten) Regierungspartei PCRM.

Dieser Positionswechsel der Kommunistischen Partei ist auch die Haupterkenntnis des Aufsatzes von Oleh Protsyk, Andrei Volentir und Igor Bucataru (Otnošenie političeskich par­tij i ėkspertnogo soobščestva Moldovy k pro­bleme pridnestrovskogo konflikta, S. 99–137). Die Politikwissenschaftler aus Flensburg und Chişinău haben Positionen der moldauischen Parteien zu Fragen, die die Regulierung des Transnistrien-Konflikts betreffen, untersucht. Signifikant ist dabei vor allem die Revidierung der Positionen der PCRM in den Fragen einer Föderalisierung, eines möglichen Autonomiestatus Transnistriens oder einer potentiellen Anwendung von Gewalt. Von einer eher transnistrienfreundlichen Partei sind die Kommunisten in ihrer Regierungszeit zu relativen Hardlinern geworden. Auch wenn die These des Aufsatzes plausibel erscheint, mutet die angewandte quantifizierende Methode bei geringen Fallzahlen und abstrakten Fragen gewagt an: 11 Experten und eine unbekannte Zahl von Parteifunktionären sollten Positionen von Parteien zu den jeweiligen Fragen auf einer Skala von 1 bis 10 einschätzen, woraus die Autoren dann eine Vielzahl von Indizes errechnet haben.

Am Beispiel Transnistriens versucht Shigeo Mutsushika, Professor für internationale Beziehungen an der japanischen Universität Shizuoka, das Verhältnis zwischen der EU und Russland im Kampf um Einfluss in der ehemaligen Sowjetunion deutlich zu machen (Evrosojuz i Rossija o probleme Pridnestrov’ja, S. 138–159). Er konstatiert eine scharfe Wende in der Politik der EU, die bis 2002 eine Einmischung ablehnte, wohingegen sie seitdem zunehmend die Regulierung des Transnistrien-Konflikts zu ihrem Geschäft macht. Nach Mutsushika steht eine EU, die ihre Interessen in zunehmend harten Standpunkten vertritt, einer Russländischen Föderation gegenüber, der diese Einmischung nicht passt, die sie letztendlich aber nicht verhindern kann.

Die Kiewer Politikwissenschaftler Vitalij Ku­lik und Valentin Jakušik beschreiben die ukrainische Transnistrien-Politik nach der „Oran­gen Revolution“ (Plan Juščenko po uregulirovaniju pridnestrovskogo konflikta i problemy ego realizacii, S. 160–191). Nach der anfänglichen „postrevolutionären“ Euphorie in Kiew mit „der Bereitschaft, das Zentrum einer Demokratisierung des postsowjetischen Raums zu werden“ (S. 164), gab die ukrainische Regierung nach dem Scheitern des Juščenko-Plans 2005 eine eigenständige Rolle in den Regulierungsbemühungen auf und glänzte vor allem durch Passivität.

Der abschließende Beitrag des Herausgebers vergleicht Beziehungen der orthodoxen Kirchen und grenzüberschreitende „Nationalitäten“ in Abchasien und Transnistrien (Mežpravoslavnye otnošenija i transgraničnye narodnosti vokrug ne­priznannych gosudarstv. Sravnenie Pridnestrov’ja i Abchazii, S. 192–224). Matsuzato macht deutlich, dass soziale Konfliktlinien mit den Grenzen der neugegründeten Staaten nicht übereinstimmen müssen. Die Organisation der orthodoxen Kirche in den beiden verglichenen Regionen ist dabei in den beiden Vergleichsregionen entgegengesetzt: die abchasische orthodoxe Kirche hat sich für selbstständig erklärt und damit ihre kanonische Legitimität, also die Anerkennung durch die wichtigsten orthodoxen Kirchen, eingebüßt. Dagegen bildet die transnistrische Kirche mit dem „Exarchat von Tiraspol’-Dubossary“ eine eigene Einheit innerhalb der moldauischen orthodoxen Metropolie und hat den Prozess der Abspaltung Transnistriens von der Republik Moldova nicht nachvollzogen. Die Konkurrenz zwischen rumänischer und russischer Kirche auf dem Gebiet der Republik Moldova spielt für diesen Verbleib eine wichtige Rolle; die weiterhin dominierende Metropolie gehört zur Russisch-Orthodoxen Kirche. Beim zweiten Thema, der Politisierung grenzüberschreitender Ethnizität, findet Matsuzato dagegen eine Parallele in der Integrationspolitik beider Regierungen. Die abchasische Führung versuchte die Mingrelen, die dem Autor zufolge als Georgier verstanden werden, in ihr Nationenprojekt einzubinden. In Transnistrien ist das Selbstverständnis als der Staat moldauischer kultureller Eigenständigkeit – im Gegensatz zur Republik Moldova, wo der großrumänische Nationalismus das Moldauertum liquidiert habe – integraler Bestandteil der Staatsdoktrin. Die Schlüsse, die Matsuzato zieht, sind jedoch nicht so prägnant wie die von ihm herausgearbeiteten Einzelheiten. Ethno-konfessionelle grenz­überschreitende Akteure seien Garanten von Frieden und Demokratie, „in Staaten, in denen verschiedene soziale, sprachliche, konfessionelle und andere Grenzen durcheinanderlaufen“, fänden seltener Bürgerkriege statt als dort, wo diese Grenzen „übereinander liegen“ und „die Gesellschaft in zwei Lager polarisieren“ (S. 224). Die Möglichkeit, derartige Strukturmerkmale als eindeutige Ursachen von Auseinandersetzungen zu identifizieren, ist jedoch von einem relevanten Teil der Forschung zu den Konflikten im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus bestritten worden. Außerdem wurde die Annahme in Frage gestellt, sprachliche, konfessionelle, kulturelle oder ‚ethnische‘ Grenzen seien einfach in der Welt. Die imaginierten Linien sind nicht als Voraussetzung gewalttätiger Konflikte anzunehmen, sondern die Gewalt ist Teil des Prozesses, in dem solche Grenzen hergestellt und reproduziert werden.

Die fehlende Auseinandersetzung mit einer solchen theoretischen Debatte und die unpräzise Fragestellung sind die zentralen Schwachpunkte, die sich durch den Band ziehen. An keiner Stelle wird ein erklärungsmächtiges Konzept eines „Schwarzmeerraums“ erarbeitet. Die meisten Autoren vermeiden denn auch gleich das vom Titel des Buches suggerierte Thema und behandeln den Transnistrien-Konflikt aus ihrer Sicht. Dafür spielen die Autoren damit auch ihre Stärken aus: Zu ihren Themen haben die einzelnen Beiträge für am Detail Interessierte durchaus spannende Einsichten zu bieten.

Jan Zofka, Leipzig

Zitierweise: Jan Zofka über: Kimitaka Matsuzato (naučnyj redaktor) Pridnestrov’e v makroregional’nom kontekste černomorskogo poberež’ja. Sbornik statej [Transnistrien im makroregionalen Kontext der Schwarzmeerregion. Eine Aufsatzsammlung]. Slavic Research Center, Hokkaido University Sapporo 2008. = 21st Century COE Program; Slavic Eurasian Studies, 18. ISBN: 978-4-938637-47-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Zofka_Matsuzato_Pridnestrove.html (Datum des Seitenbesuchs)

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