Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 61 (2013), 3, S. 462-463

Verfasst von: Stephanie Zloch

 

Ingo Eser: „Volk, Staat, Gott!“ Die deutsche Minderheit in Polen und ihr Schulwesen 1918–1939. Wiesbaden: Harrassowitz, 2010. 771 S., 23 Abb., 16 Tab., 6 Graph. = Veröffentlichungen des Nordost-Instituts, 15. ISBN: 978-3-447-06233-6.

In der Nationalismusforschung gilt die Schule als eine der wichtigsten „Nationalisierungsagenturen“: Sie ist der Ort, an dem Nationalstaaten über die Vermittlung von Wissen, Sinnwelten und Werten gesellschaftliche Kohäsion stiften, kulturelle Traditionen vermitteln und politische Legitimation herstellen. Gleichzeitig gibt es nur wenige Bereiche des öffentlichen Lebens, die so beständig einer Reformdebatte ausgesetzt sind wie die Schule. Dieser Befund gilt in besonderem Maße für multiethnisch zusammengesetzte Staaten und Gesellschaften. Angesichts der Bedeutung von Schule ist es erstaunlich, dass sich die professionelle Geschichtsschreibung dieses Untersuchungsgegenstandes nach wie vor eher sporadisch annimmt. Ingo Eser fand für seine von Hans Lemberg betreute Dissertation zum Schulwesen der deutschen Minderheit in Polen zwischen den beiden Weltkriegen eine Literaturgrundlage vor, die stark von älteren Studien, oft aus der Feder von Zeitzeugen, geprägt war.

Auf breiter archivalischer Grundlage zeichnet Eser nun in Übereinstimmung mit der Forschung der letzten zwei Jahrzehnte ein differenziertes Bild der deutschen Minderheit in Polen, die keine „geschlossene“ Volksgruppe war: Deutsche lebten in Posen, Westpreußen und Oberschlesien, im Teschener Schlesien und in Galizien sowie in Kongresspolen und Wolhynien. Sie trennten nicht nur regionale Zugehörigkeiten, sondern auch politische Haltungen, Sozialstruktur und Konfession. Um zu untersuchen, „unter welchen Bedingungen sich Menschen als Deutsche empfanden bzw. als solche gesehen wurden“ (S. 60), zieht Eser Erkenntnisse der Soziolinguistik, etwa zur Diglossie zwischen Familien- und Hochsprache, heran. Vor allem aber nimmt er historische Begrifflichkeiten in den Blick. Demnach bedeutet „Loyalität“ nicht nur Gesetzestreue, sondern sie beinhaltet auch „kognitive und emotionale Komponenten“, die sich einer staatlichen Kontrolle entziehen. Ähnliche Skepsis gilt Begriffen wie „Integration“, „Assimilation“ oder „Akkulturation“: Es komme vielmehr darauf an, „dass Minderheit wie Mehrheit lernen, miteinander auszukommen und Mechanismen zur gewaltlosen Beilegung von Interessenkonflikten zu entwickeln“ (S. 19).

So angenehm die theoretisch reflektierte und sorgfältig abwägende Einleitung den Leser einnimmt, so sehr irritiert, dass im Hauptteil der Arbeit die analytische Begriffsarbeit oft zum Erliegen kommt: „Loyalität“, „Integration“ oder „Assimilation“ werden essentialistisch und nicht als Forschungsfragen benutzt; mehrfach taucht zudem das Attribut „patriotisch“ auf, das in einer nationalismustheoretisch informierten Arbeit zumindest erläuterungsbedürftig ist. Unscharf bleibt der Begriff „Ethnizität“, der konzeptionell zwischen ethnisch-nationaler Primordialität und Wahrnehmung von Differenz changiert. Zu bezweifeln ist schließlich, dass der polnische Begriff naród gleichermaßen als „Volk“ und „Nation“ übersetzt werden kann (S. 29, 125). Dies hieße eine jahrzehntelange politisch-programmatische Debatte innerhalb der polnischen Nationalbewegung zu ignorieren, wonach das in sozialen Kategorien begriffene „Volk“ (lud) erst einmal für die Idee der „Nation“ zu gewinnen war.

Die empirische Darstellung des deutschen Minderheitenschulwesens in Polen ist sehr ausführlich, ja fast handbuchartig geraten. Vorgestellt werden die Organisationsstrukturen und Akteure der deutschen Schulvereine und Lehrerverbände sowie die Praxis des Schulbetriebs, angefangen von der räumlichen Ausstattung über den Schulweg bis hin zu Sprachprüfungen. Dabei widmet sich Eser vielen bislang unbeachteten Themen, etwa der Situation polnischer, jüdischer und ukrainischer Lehrkräfte an deutschen Schulen, aber auch dem „volksnationalen Denken“ seit Ende des 19. Jahrhunderts, wie es von deutschen Bildungspolitikern und Pädagogen formuliert wurde. Dabei zeigten sich Vertreter der deutschen Minderheit in Polen konzilianter als ihre Kollegen im Deutschen Reich: Sie gingen von einer „Vereinbarkeit deutscher ,Volkstums‘-Pflege und staatsbürgerlicher Pflichterfüllung“ gegenüber Polen (S. 592) aus.

Die durchgängige Berücksichtigung von Beziehungsgeschichte und Vergleich gehört zweifellos zu den Stärken der Arbeit. Dies gilt etwa mit Blick auf die schulpolitischen Aktivitäten anderer Minderheitengruppen im Polen der Zwischenkriegszeit, wobei Eser zu dem Schluss kommt, dass „die Selbstwahrnehmung der Deutschen, Schöpfer einer besonderen, ,überlegenen‘ Kulturleistung zu sein“, einer empirischen Belastungsprobe nicht standhält (S. 284). Herausgefordert wurde diese Selbstwahrnehmung auch durch den „Gegenseitigkeitsgedanken“: Demnach sollte das Schulwesen der deutschen Minderheit in Polen in demselben Maße gefördert werden wie das Schulwesen der polnischen Minderheit im Deutschen Reich. Eine solche politische Formel konnte jedoch nicht alle Ungleichgewichtigkeiten beheben, da dem deutschen Minderheitenschulwesen erhebliche finanzielle Unterstützung aus Berlin zufloss. Seit Mitte der 1930er Jahre entfaltete der „Gegenseitigkeitsgedanke“ eine negative Dynamik, als in beiden Ländern restriktive Maßnahmen miteinander vergolten wurden. Dennoch kommt Eser in einer europäischen Umschau zu dem Schluss, dass Polen bei der Behandlung des Minderheitenschulwesen „eine mittlere Stellung“ eingenommen habe. Eine auf Assimilierung gerichtete Bildungspolitik gehörte zudem „keineswegs zu den Besonderheiten Ostmittel- und Südosteuropas“ (S. 666).

Die polnische Bildungspolitik findet, wenn es nicht direkt um Maßnahmen gegenüber den Minderheiten ging, in Esers Arbeit recht wenig Raum. Die Unterteilung zwischen staatlichem und privatem Schulwesen wird noch behandelt, doch schon Probleme der Bildungsfinanzierung, die Debatte um die Einführung von Bekenntnisschulen oder der Umgang mit oppositionellen Haltungen nach dem Staatsstreich Piłsudskis, die im Lehrerstreik von 1937 kulminierten, werden nicht mehr thematisiert. Hier wird etwas zu sehr die Perspektive der deutschen Minderheit eingenommen, deren schulpolitische Bezugsgröße die Situation im Deutschen Reich war. Dabei zeigt Eser auf, welche Folgen solche Einseitigkeiten hatten: So rezipierten die deutschen Lehrer in Polen zwar die reichsdeutschen Schulreformdebatten, aber kaum die aktuellen Entwicklungen in der polnischen Pädagogik. Diese selbst gewählte „Isolation“ der deutschen Lehrerschaft wirkte sich nach Ansicht Esers „auf die Unterrichtsqualität nachteilig aus“ (S. 527). Und eine Unterredung zwischen Vertretern des Allgemeinen Deutschen Schulausschusses mit den Posener Schulbehörden brachte zutage: Die „deutsche Delegation besaß keinen Sinn für das egalitäre, modernistische und staatsbezogene Nationsempfinden ihrer polnischen Gesprächspartner“ (S. 312).

Diese Charakteristik der polnischen Seite wird in der Zusammenfassung der Arbeit neu aufgegriffen und verstärkt: Demnach trug das polnische nationalizing „stark modernistische Züge“ und beinhaltete das „Versprechen von Gleichheit und Partizipation“ (S. 669); Gruppenprivilegien wurden prinzipiell skeptisch betrachtet. Diese Erkenntnis ist sehr wichtig, denn sie liefert einen neuen Blick auf die viel diskutierte Frage der Minderheitenproblematik zwischen den beiden Weltkriegen. An die Stelle sozialpsychologischer Ansätze, die mitunter recht apodiktisch „Minderwertigkeitskomplexe“ oder postkoloniale Traumata der ethnisch polnischen Mehrheitsbevölkerung diagnostizieren, tritt der Verweis auf die Eigenlogik und Eigendynamik von Modernisierungsprogrammen: Für die konflikthaften Ausprägungen der Bildungspolitik im Polen der Zwischenkriegszeit war „nicht nur ein Nationalismus, sondern auch ein überzogener Modernismus verantwortlich“ (S. 669). Mit dieser anregenden These Esers wird die Geschichte Polens in einen größeren analytischen Kontext gerückt, der von den Ambivalenzen der europäischen Moderne im 20. Jahrhundert handelt.

Stephanie Zloch, Braunschweig

Zitierweise: Stephanie Zloch über: Ingo Eser: „Volk, Staat, Gott!“ Die deutsche Minderheit in Polen und ihr Schulwesen 1918–1939. Wiesbaden: Harrassowitz, 2010. 771 S., 23 Abb., 16 Tab., 6 Graph. = Veröffentlichungen des Nordost-Instituts, 15. ISBN: 978-3-447-06233-6, http://www.oei-dokumente.de/JGO/Rez/Zloch_Eser_Volk_Staat_Gott.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2013 by Osteuropa-Institut Regensburg and Stephanie Zloch. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@osteuropa-institut.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.