Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 3

Verfasst von: Joachim von Puttkamer

 

Heike Kathrin Litzinger: Juristen und die Bauernfrage. Die Diskussion um das bäuerliche Grundeigentum in Russland von 1880 bis 1914. Frankfurt/Main: Klostermann, 2007. XII, 317 S. = Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, 221. ISBN: 978-3-465-04030-9.

Die Agrarreformen Stolypins werden weithin als das wichtigste Reformvorhaben des Zarenreiches im Gefolge der Revolution von 1905 angesehen, als Kernstück eines Re­formprogramms, das mit der langfristigen Auflösung der Umteilungsgemeinde (obščina) auf die politische wie soziale Integration der Bauern in die russische Gesellschaft zielte. Ein wesentliches Element war dabei die Entwicklung eines modernen Eigentumsbegriffs. Damit knüpften die Stolypinschen Reformen an eine längere Reformdebatte an, die bis vor die Bauernbefreiung von 1861 zurückreichte und auf den Kern der Eigenheiten Russlands und seiner Orientierung am westlichen Europa zielte.

Die vorliegende Frankfurter rechtsgeschichtliche Dissertation fragt nach dem Beitrag russischer Juristen zu dieser Debatte. Anhand der einschlägigen juristischen Lehrbücher wie der reichhaltigen Zeitschriftenliteratur zeigt sie, welche Schwierigkeiten herausragende russische Rechtsgelehrte damit hatten, den Eigentumsbegriff zu bestimmen, der der obščina zugrunde lag. Westlich orientierte Juristen wie D. I. Mejer und G. F. Šeršenevič setzten auf eine systematisch stimmige Begriffsbildung, an der sich das positive Recht zu messen hatte. Dagegen gingen die Konservativen um den späteren Oberprokuror K. P. Pobedonoscev und A. M. Guljaev von einer historisch gewachsenen Rechtsinstitution aus, die sie als genuin russisch interpretierten und die sich somit einer präzisen begrifflichen Einordnung entzog. Dahinter stand der sattsam bekannte Streit um Charakter und Zukunft der Dorfgemeinde. Während die Liberalen auf die regulierende, integrative Kraft rechtlicher Institutionen setzten, die es auch in Russland zu implementieren galt, hielten die Konservativen an der langfristigen Selbstregulierung der Dorfgemeinde als sozialer Sicherung gegenüber den Zumutungen der Moderne fest. Dabei teilten die Juristen mehrheitlich durchaus die Kritik an der rechtlich unbestimmten Ausgestaltung der obščina, in der Eigentum und Besitz nicht klar geschieden waren und die sich nicht einmal eindeutig dem Zivilrecht oder dem öffentlichen Recht zuordnen ließ. Diese Unschärfen öffneten den Raum für höchst unterschiedliche Deutungen des geltenden Rechts, bis hin zu dem durchaus plausiblen Versuch, ein bereits bestehendes Recht zum Austritt aus der Dorfgemeinde „herbeizudefinieren“ (S. 202), das durch die Stolypinsche Reform gerade erst geschaffen werden sollte. Der Umstand, dass viele Juristen das entstehende russische Parteiensystem an zentraler Stelle mitgestalteten, führte nach 1906 zu einer merkwürdigen Verkehrung der Debatte. Der Liberale Šeršenevič kritisierte nunmehr, dass die Auflösung der Dorfgemeinde zu sehr auf Zwangselemente setze und ihren Charakter als juristische Person zu wenig berücksichtige. Dagegen begrüßten Guljaev und der Baron Meyendorff, der den Oktobristen nahestand, daß nunmehr das Anteilland rechtlich an den allgemeinen Eigentumsbegriff des russischen Zivilrechts angeglichen werde.

Ungeachtet dieser parteipolitischen Prägungen kommt die Verfasserin zu dem Schluss, dass eine stärkere Beteiligung von Juristen die Widersprüche des Reformwerks hätte mildern können. Diese Einschätzung stützt sie auf die eher beiläufige Einschätzung, dass sich die Beteiligten zusehends auf die eigene Anschauung bäuerlicher Rechtspraxis gestützt hätten. Den Nachweis bleibt sie jedoch schuldig. Wie weit die jeweiligen Autoren aus eigener Kenntnis dörflicher Verhältnisse argumentierten, statt sich von abstrakten rechtspolitischen Grundsätzen leiten zu lassen, wird in den ansonsten umfangreich referierten Beiträgen nicht recht deutlich. Hinzu kommt, dass die vorliegende Arbeit die einschlägige, jüngere Forschungsliteratur zum bäuerlichen Rechtsverständnis und zur bäuerlichen Rechtspraxis im ausgehenden Zarenreich nicht rezipiert und somit auch keinen Maßstab besitzt, an dem sich der Realitätsbezug der juristischen Debatten messen ließe. Kritisch einzuwenden bleibt schließlich, dass die an sich überzeugende Verschränkung eines thematischen und chronologischen Zugangs dort nicht trägt, wo einzelne Debattenbeiträge an weit auseinanderliegenden Stellen behandelt werden. So gehen argumentative Zusammenhänge verloren und es werden chronologische Entwicklungen suggeriert, welche das zugrundeliegende Material nicht hergibt. Vor allem bei den Eigennamen fallen zudem kleinere Unsicherheiten in der Transliteration ins Auge, die sich bei einem gründlicheren Lektorat leicht hätten ausbügeln lassen.

Trotz dieser Einwände handelt es sich um einen wichtigen Beitrag zur russischen Rechts- und Agrargeschichte, der eine lebendige und kontrovers geführte Reformdebatte erschließt. Dabei drohte der Gestaltungswille des liberalen Reformdrangs sichtbar mitunter aus den Augen zu verlieren, was der bäuerlichen Rechtspraxis zuzumuten war. Dennoch zeigt die juristische Debatte der Bauernfrage nicht den überschießenden Modernisierungsdrang, den Jörg Baberowski in seiner monumentalen Studie zur russischen Justizreform konstatiert hat. Vielmehr wird eine ernsthafte, kontroverse Auseinandersetzung darüber sichtbar, wie sich die russische bäuerliche Wirklichkeit angemessen mit juristischen Begriffen beschreiben und wie sich sozialer Wandel in einer Weise rechtlich gestalten ließ, die der gewachsenen Rechtspraxis gerecht werden und zugleich eine zentrale Entwicklungsblockade des ausgehenden Zarenreiches auflösen sollte.

Joachim von Puttkamer, Jena

Zitierweise: Joachim von Puttkamer über: Heike Kathrin Litzinger Juristen und die Bauernfrage. Die Diskussion um das bäuerliche Grundeigentum in Russland von 1880 bis 1914. Frankfurt/Main: Vittorio Klostermann, 2007. XII. = Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, 221. ISBN: 978-3-465-04030-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Von_Puttkamer_Litzinger_Juristen_und_die_Bauernfrage.html (Datum des Seitenbesuchs)

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