Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 3, S.  424-425

Erik Fischer (Hrsg.) Chorgesang als Medium von Interkulturalität: Formen, Kanäle, Diskurse. Franz Steiner Verlag Stuttgart 2007. 427 S., Abb. = Berichte des interkulturellen Forschungs­projekts „Deutsche Musikkultur im östlichen Europa“, 3. ISBN: 978-3-515-09011-7.

Das Thema des Chorgesangs ist wie geschaffen für ein Buch an der Schnittstelle von Geschichts- und Musikwissenschaft samt ihren Nachbardisziplinen. Einerseits lassen sich damit Themengebiete wie die Nationsbildung und Soziabilität bereichern, andererseits ist in der Musikwissenschaft relativ wenig erforscht, welche Lieder in bestimmten Perioden die Repertoires dominierten, wie sie für den jeweiligen Kontext interpretiert wurden und wie das Publikum darauf reagierte.

Wie Dieter Langewiesche in seinen Publikationen über kulturelle Nationsbildung gezeigt hat, waren die Sängervereine im Vormärz neben den Turnern das wichtigste Standbein der deutschen Nationalbewegung. In etlichen Ländern Ostmitteleuropas war diese Entwicklung zeitlich ein wenig verschoben, im Prinzip aber ähnlich. Das Beispiel der „singenden Revolution“ im Baltikum zeigt die politische Relevanz des Singens als sozialer Praxis bis in die jüngste Zeit. Es gehört zu den Vorzügen des hier rezensierten Konferenzbandes, dass diese Ähnlichkeiten und die Wechselbezüge zwischen deutschen und ostmitteleuropäischen Gesangskulturen und -vereinen anhand lokaler Fallstudien aufgezeigt werden. Einige Autoren aus Ostmitteleuropa analysieren dabei nicht nur den Einfluss der deutschen Chorkultur auf das östliche Europa, wie es dem Förderbereich der Bundesregierung entspricht, dem das Projekt über Deutsche Musikkultur im östlichen Europa seine Existenz verdankt, sondern auch Kulturtransfers in die umgekehrte Richtung, von tschechischen, slowakischen, ungarischen, baltischen und anderen Chören auf die regionale deutsche Gesangskultur. Besonders interessant sind die von Musikwissenschaftlern erarbeiteten Repertoireanalysen, die zeigen, dass deutsche Chöre auch ungarisches, rumänisches bzw. slowakisches Liedgut verwendeten. Chöre waren demnach nicht nur Träger von Nationalbewegungen, sondern auch Institutionen des interkulturellen Austauschs. Einige Aufsätze belegen aber, wie Gesangsvereine im 20. Jahrhundert immer mehr von nationalistischem und nationalsozialistischem Gedankengut dominiert wurden und ihre Funktion als kulturelle Vermittlungsinstanzen verloren.

Leider bleiben diese interessanten Befunde auf der Ebene von Fallstudien und werden nicht in größere, zeitlich differenzierte Zusammenhänge eingeordnet. Dies liegt zum einen wohl am Herausgeber, der sich auf ein Vorwort von zwei Seiten beschränkt, zum anderen am Redaktionsteam, dem offenbar die Arbeit überlassen wurde, das aber nicht als Herausgeber genannt wird. Man hätte sich mehr zusammenfassende Überlegungen gewünscht anstatt der sich teilweise wiederholenden und im Fall der Sozialgeschichte überholten disziplinären Standortbestimmungen, die mehr als 100 Seiten füllen. Ein zupackendes Herausgebergremium hätte außerdem dafür sorgen können, dass die Texte im Format ein wenig angeglichen sind. Eine Beiträge umfassen nur ein paar Seiten, andere Texte sind fast 40 Seiten lange Auszüge aus Qualifikationsarbeiten.

Unabhängig davon enthalten viele Beiträge interessante und teilweise neue Informationen. So zeigt zum Beispiel Eckhard Jirgens, dass zuerst die deutschen Sänger aus zweisprachigen deutsch-tschechischen Gesangsvereinen und Chören austraten, nicht die Tschechen (wie in anderen Assoziationen und Institutionen). Auch die von Jörg Hackmann untersuchte nationale Differenzierung der baltischen Gesangsvereine weist über das unmittelbare Thema hinaus. Der Aufsatz des Musikwissenschaftlers Hans-Wer­ner Boresch über das Dresdner Sängerbundfest ergänzt sehr gut die erwähnten Publikationen von Dieter Langewiesche. Die vorzüglichen Texte der beiden polnischen Autoren Joanna Subel und Andrzej Michalczyk deuten wieder einmal daraufhin, dass man die Forschungsmittel für deutsche Kultur im östlichen Europa auch ohne weiteres direkt nach Polen vergeben könnte. Der lettische Musikwissenschaftler Jā­nis Torgāns zeigt mit Notenbeispielen, wie lohnend es ist, sich mit Musik außerhalb des üblichen Kanons der E-Musik zu befassen. Aber man vermisst am Anfang und Ende die Synthetisierung und Einordnung und ein tatsächlich interdisziplinäres Profil. Auf der Basis dieses Kon­ferenzbandes muss man dem Projekt empfehlen, sich bei künftigen Publikationen mehr vom Chorgesang inspirieren zu lassen und die verschiedenen Solisten, Register und Gesangsvereine zu einem harmonischen Gesamtklang zu­sammenzuführen.

Philipp Ther, Florenz

Zitierweise: Philipp Ther über: Erik Fischer (Hrsg.): Chorgesang als Medium von Interkulturalität: Formen, Kanäle, Diskurse. Franz Steiner Verlag Stuttgart 2007. = Berichte des interkulturellen Forschungs­projekts „Deutsche Musikkultur im östlichen Europa“, 3. ISBN: 978-3-515-09011-7, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 3, S. 424-425: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Ther_Fischer_Chorgesang.html (Datum des Seitenbesuchs)