Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

 

Ausgabe: 59 (2011) H. 1

Verfasst von:Olaf Terpitz

 

Brian Horowitz Jewish Philanthropy and Enlightenment in Late-Tsarist Russia. Seattle, WA: University of Washington Press 2009. XII, 342 S., 17 Abb. A Samuel and Althea Stroum Book. ISBN 978-0-295-98898-6.

Das Feld der osteuropäisch-jüdischen Studien hat in den letzten beiden Jahrzehnten bemerkenswerte Untersuchungen in makro- wie mikrohistorischer Hinsicht hervorgebracht. Forscherinnen und Forscher aus den USA, Europa, Russland und Israel haben sich verstärkt einem äußerst heterogenen Geschichtsraum zugewandt, der in seinen historischen Konstellationen von Minderheiten, Mehrsprachigkeit, religiöser und ethnischer Pluralität gegenwärtig aktuelle Fragen nach Zugehörigkeit, kultureller Begegnung und nicht zuletzt nach Formen der Moderne berührt.

Brian Horowitz, Professor für Russische und Jüdische Studien an der Tulane University in New Orleans, legt mit seiner unlängst erschienenen, hier zu besprechenden Monographie eine Arbeit vor, die sich einer der zentralen Institutionen der jüdischen Aufklärung im Russländischen Reich widmet, dem Obščestvo dlja ras­pro­stranenija prosveščenija meždu evrejami v Rossii (OPE). Wenngleich eine Reihe von Untersuchungen die OPE in Einzelaspekten behandelt – etwa von Jacob Raisin, John Klier, Vere­na Dohrn –, lag bislang keine umfassende Geschichte der Institution, ihrer Akteure und ihrer Agenda vor. Dieses ambitionierte Ziel stellt sich nun die vorliegende Arbeit: „As the only full history of the OPE ever written and the first attempt to treat the society comprehensibly in nearly a century, this book sheds light on the organization itself, its institutional achievements, and its role in Jewish and Russian life.“ (S. 10) Horowitz folgt dabei einer Methode, die er als „neohistoricism“ (S. 11) bezeichnet. Sie orientiere sich nicht an einer aus der Gegenwart des Betrachtenden rückblickenden Darstellung, sondern will die zeitgenössischen Haltungen, Bewertungen und Erwartungen, damit die Möglichkeit von Entwicklungen, die nicht zwangsläufig eingetreten sind, in den Vordergrund stellen.

Die Gesellschaft, in St. Petersburg auf eine Petition von Evzel Ginzburg und A. M. Brodsky an die kaiserliche Regierung Alexanders II. hin gegründet, existierte von 1863 bis 1929. Ihr Tätigkeitsfeld konzentrierte sich auf Kultur und Bildung, da ihr weder ein politisches Mandat zu­gestanden wurde noch die Organisation des religiösen Lebens. Ihre Gründungscharta formulierte als Ziel, die Herausbildung einer säkularen jüdischen Kultur in russischer und hebräischer Sprache zu befördern. Diese kurze Charakteristik deutet bereits auf einige grundlegende Spannungsfelder, Ambivalenzen, aber auch auf das kreative Potential hin, denen die OPE während ihres gesamten Bestehens ausgesetzt war. In der imperialen Hauptstadt St. Petersburg ansässig, wo die Mehrzahl der russländischen Juden kein Wohnrecht hatte, und von Vertretern der sehr kleinen jüdischen Oberschicht und von Intellektuellen begründet und vorangebracht, bildete die OPE eine Instanz, welche die Interessen der Regierung einerseits, etwa an Integration und Russifizierung der Juden, mit den Forderungen der Aufklärung nach staatsbürgerlicher Emanzipation und mit den Bedürfnissen der jüdischen Bevölkerung im 1804 eingerichteten Ansiedlungsrayon andererseits zu vermitteln und untereinander auszutarieren hatte.

Horowitz zeichnet in vier Abschnitten detailliert die Debatten in der Gesellschaft, ihre Entwicklung über nahezu sieben Jahrzehnte und die Herausforderungen nach, wie sie die Pogrome 1881/82 oder die Revolution von 1905 darstellten. Die philanthropische Tätigkeit der Gesellschaft stand in engem Zusammenhang mit ihrer Bildungsarbeit: Es wurden Publikationen jüdischer Schriftsteller in russischer und hebräischer Sprache, vor allem aber wurden Schulen gegründet, Lehrer ausgebildet, Lehrprogramme und neue Schultypen entwickelt. In der OPE, spätestens seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ein Sammelbecken für Intellektuelle verschiedenster politischer Haltungen, konzentrierten sich die zeitgenössischen innerjüdischen Diskurse, beispielsweise der Paradigmenwechsel in der Einstellung zur Integration, die Debatten um die Wahl von Russisch, Hebräisch oder Jiddisch als Kommunikationssprache und als Ausdruck ideologischer Gesinnung und nicht zuletzt die komplexen Überkreuzungen zwischen politischer Haltung und Sprachwahl.

Horowitz gelingt es, alle diese unterschiedlichen Aspekte und Voraussetzungen – seien es die divergierenden Bedingungen in St. Petersburg, Odessa oder Kongresspolen, seien es die Auseinandersetzungen zwischen liberal und national orientierten Intellektuellen – in einer stringenten Erzählung zusammenzuführen. Seine Studie stützt sich hierbei auf ein reiches Archivmaterial. Horowitz zeichnet aber nicht nur ein umfassendes Bild des Wirkens dieser überaus wichtigen Institution für die jüdische Aufklärung in Russland, sondern er lenkt ebenso den Blick auf inhaltliche und theoretisch-methodische Desiderata in den Feldern der jüdischen wie osteuropäischen Kulturgeschichte. Die Geschichte der OPE eröffnet Perspektiven für historische Bildungsforschung ebenso wie für die Historiographie der Imperien, die sich durch die Interaktion unterschiedlicher nationaler und religiöser Minderheiten auszeichnen. Weiterführende vergleichende Arbeiten könnten sowohl das Erkenntnispotential dieser Fragestellungen weiter ausloten als auch zur Schärfung von Begriffen wie Integration, kulturelle Begegnung oder kulturelle Übersetzung beitragen. Ein erweiterter Kontext von imperialer Kondition würde es zudem erlauben, die Einengung der Geschichte von Minderheitengruppen und immer noch perpetuierte Dichotomien, wie Russisch vs. Jüdisch, zu überwinden.

Olaf Terpitz, Leipzig

Zitierweise: Olaf Terpitz über: Brian Horowitz Jewish Philanthropy and Enlightenment in Late-Tsarist Russia. University of Washington Press Seattle, WA 2009. XII. = A Samuel and Althea Stroum Book. ISBN 978-0-295-98898-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Terpitz_Horowitz_Jewish_Philanthropy.html (Datum des Seitenbesuchs)

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