Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

 

Ausgabe: 59 (2011) H. 1

Verfasst von:Gerd Stricker

 

Partei und Kirchen im frühen Sowjetstaat. Die Protokolle der Antireligiösen Kommission beim Zent­ralkomitee der Russischen Kommunistischen Partei (Bol’ševiki) 1922–1929. In Übersetzung hrsg. von Ludwig Steindorff, in Verbindung mit Günther Schulz [u.a.]. Lit Verlag Berlin [usw.] 2007. 464 S. = Geschichte: Forschung und Wissenschaft, 11. ISBN: 9783-8258-8604-2.

Bereits ein Vierteljahr nach der Oktoberrevolution verabschiedeten die Bol’ševiki das Dekret über die Trennung der Kirche vom Staat (23. Ja­nuar 1919). Es war der erste Schritt zur Verdrängung des Phänomens Religion aus der neuen Gesellschaft; nicht zuletzt ging es aber um die Verbannung der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) aus der Öffentlichkeit. Durch die antireligiöse Programmatik der Partei wurde der in dem Dekret erhobene Anspruch auf religiöse Neutralität des Staates jedoch von vornherein aufgehoben. Die Jahre des Bürgerkriegs waren gekennzeichnet einerseits von grauenhaften Miss­handlungen, Folterungen und Morden an zahllosen Geistlichen (Bischöfen, Priestern, Mön­chen, Nonnen) und andererseits von häufigen Fällen der Duldung kirchlicher Institutionen (z.B. halboffizieller klösterlicher Sovchosen). Diverse antireligiöse Kommissionen kamen einander immer wieder ins Gehege – wie die Kommission zur Beschlagnahmung der Kirchenschätze, die Kommission für Sektenfragen, die Antireligiöse Kommission beim Agitprop.

Diese Organe wurden am 17. Oktober 1922 zur „Kommission zur Durchführung des Dekrets über die Trennung der Kirche vom Staat beim ZK der Russischen Kommunistischen Partei ‚Bol’ševiki‛“ (auch „Antireligiöse Kommission“ / ARP genannt) zusammengefasst. Als ihr Vorsitzender fungierte Emeljan Jaroslavskij, als ihr Sekretär Evgenij A. Tučkov ([O]GPU). Die nebenamtlichen Mitarbeiter in der ARK repräsentierten verschiedene Institutionen (z.B. das ZK der KPdSU, das Zentrale Exekutivkomitee (VCIK), das Innen- und das Justizministerium, die Geheimpolizei [O]GPU, Agitprop usw., zeitweise auch das NKWD). Die ARK tagte anfangs wöchentlich, später 14-tägig und auch seltener. Seit 1925 verlor die ARK deutlich an Einfluss. Die Auflösung der ARK durch das Politbüro der KPdSU (5. Dezember 1929) kam für die Mitarbeiter völlig überraschend; bis heute sind die Gründe dafür unklar.

Was in der ARK verhandelt wurde, bildete nur die Spitze des Eisberges dessen, was in der Sowjetunion zur Unterdrückung der Religion geschah. Denn die meisten antireligiösen Maßnahmen wurden ‚administrativ‛ vor Ort entschieden, wo die lokalen Parteifunktionäre unkontrolliert agierten. In erster Linie behandelte die ARK Angelegenheiten der einstigen Staatskirche, der ROK, sodann der „Sekten“ (d.h. Baptisten, Evangeliumschristen, Adventisten, Men­noniten) – seltener ging es um Islam, Judentum oder Buddhismus, um die katholische oder die lutherische Kirche. Es ist einerseits beklemmend, wie zynisch – und andererseits verwunderlich, wie verständnisvoll zuweilen innerkirchliches Fragen angegangen wurden. Ein weiteres wichtiges Thema der ARK war die offizielle antireligiöse Propaganda, z.B. die Zeitschrift „Bezbožnik“ und die sie tragenden Gottlosenverbände.

Die Protokolle – Anfang der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts im damaligen „Rossijskij centr chranenija i izučenija dokumentov novešej istorii“ (RCChIDNI) aufgefunden – reflektieren bis 1925 die sowjetische Religionspolitik recht umfassend, etwa die Instrumentalisierung der sowjetnahen orthodoxen „Erneuerer“-Abspaltung gegen Patriarch Tichon (Bellavin): So hatte Jaroslavskij dessen „Reue-Erklärung“ vom 16. Juni 1923 formuliert (S. 20 und 110–111). Hingegen bieten die Protokolle nach 1925 weniger Bedeutsames – offenkundig wurde nach dem Tode von Patriarch Tichon (7. April 1925) die Strategie gegenüber der ROK an anderer Stelle entschieden. So finden sich in den Protokollen kaum Hinweise auf die staatlichen Manipulationen um die Nachfolge Patriarch Tichons, auf den Stv. Patriarchatsverweser Metropolit Sergij (Stragorodskij, seit 1926). Hinsichtlich der Genese seiner umstrittenen „Deklaration“ (29. Juli 1927) sind die Protokolle unergiebig.

Deren Edition bietet der Forschung vielfach Hilfe bei der Klärung offener Frage – vor allem bis 1925. Mit Gewinn benutzt der Leser die Kurzbiographien aller in den Texten erwähnten Personen (S. 369–403).

Gerd Stricker, Zürich

Zitierweise: Gerd Stricker über: Partei und Kirchen im frühen Sowjetstaat. Die Protokolle der Antireligiösen Kommission beim Zentralkomitee der Russischen Kommunistischen Partei (Bol’ševiki) 1922–1929. In Übersetzung hrsg. von Ludwig Steindorff, in Verbindung mit Günther Schulz [u.a.]. Lit Verlag Berlin [usw.] 2007. = Geschichte: Forschung und Wissenschaft, 11. ISBN: 9783-8258-8604-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Stricker_Partei_und_Kirchen_im_fruehen_Sowjetstaat.html (Datum des Seitenbesuchs)

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