Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012), 1, S. 127-129

Verfasst von: Gerd Stricker

 

Russia’s Dissident Old Believers 1650–1950. Ed. by Georg B. Michels and Ro­bert L. Nichols. Minneapolis, MN: University of Minnesota, 2009. XIV, 316 S., 16 Abb., Graph. = Minnesota Mediterranean and East European Monographs, XIX. ISBN: 978-0-9791218-5-2.

Der vorliegende Band enthält Materialien, die vor 15 Jahren an einer Konferenz in North­field / Minnesota (30.9.2.10.1994) vorgestellt worden sind. Neben Beiträgen von Aleksandr I. Klibanov und Donald W. Treadgold (Seattle / Washington), die beide 1994 verstorben sind, weist das Inhaltsverzeichnis weitere klingende Namen auf: allen voran Nikolaj N. Pokrovskij (Akademgorodok / Novosibirsk), Robert O. Crummey (Davis / CA), Irina Pozdeeva (Moskau), Roy Robson (Philadelphia), Gregory L. Freeze (Waltham / MA), Richard Morris (Woodburn / OR) und andere.

Das Altgläubigen-Schisma wurde ausgelöst durch die Kirchenreformen des Patriarchen Nikon (seit 1654). Bis Ende des 17. Jahrhunderts wurden die „Schismatiker“ (raz­kol’niki) mit staatlichen Mitteln (z. B. Militär) gnadenlos verfolgt, worauf viele von ihnen mit Massen-Selbstverbrennungen reagierten – und mit der Flucht in die Weiten Sibiriens oder ins Ausland (ins Habsburgerreich, nach Polen [Ukraine], in schwedische Lande [Baltikum], vereinzelt nach Ostpreußen, später nach Amerika). Der Terminus „Altgläubige“ (starovery) meint, dass man dem „alten Glauben“ und nicht den von Patriarch Nikon dekretierten Neuerungen folgte; vgl. die konkretere Bezeichnung „Altritualisten“ (staro-obrjadčiki). – Da den Altgläubigen kein Bischof folgte, der Priester hätte weihen können, wäre ihr Schicksal eigentlich das der Priesterlosigkeit gewesen. Ein großer Teil der Dissidenten hat diesen Weg auch gewählt: die sog. „Priesterlosen“ (bezpopovcy), die mit der Zeit in zahlreiche Denominationen zerfallen sind. Andere aber hielten am Priestertum fest (popovcy) und warben Priester von der Reichskirche ab (beglo-popovcy). 1849 und 1923 gelang es diesen, zwei Hierarchien zu begründen (Belaja Krinica und Novozybkov), die aber beide kanonische Defizite aufwiesen. Um 1900 wurde die Zahl der Altgläubigen aller Gruppierungen auf 1012 Mio. Personen veranschlagt.

Im ersten Teil dieses Bandes werden die Quellenlage zum Altgläubigentum und die Historiographie generell diskutiert (N. Pokrovskij, R. Crummey, E. Kasinec / I. Pozdeeva). Quellen sind reichlich vorhanden; Expeditionen fördern immer neues Material zutage – vor allem spirituelles. Eine andere Kategorie bilden ‚weltliche‘ Materialien, die den Alltag, den vorsichtigen Umgang der Altgläubigen mit Vertretern der Reichskirche und des Staates beschreiben. Die Aussagen von nicht-altgläubigen Autoren unterscheiden sich je nach ihrem ‚Sitz im Leben‘ oft diametral: von Kirchenhistorikern, von staatshörigen oder aber kritischen Profanhistorikern, von westlichen Forschern usw. Die gegensätzlichen Aussagen ergeben aber insgesamt ein recht facettenreiches Bild vom Altgläubigentum in der russischen Geschichte.

Im zweiten Teil (A. Klibanov, M. Hildermeier, G. Michels) werden soziale und ökonomische Entwicklungen im Altgläubigentum und dessen gesetzliche Stellung in der russischen Gesellschaft diskutiert. Michels tut dies mit Blick auf das 17. Jh., Hildermeier mit Blick auf die beginnende Industrialisierung in Russland. V. Pozdeeva beschäftigt sich mit den beispielhaften sozialen Einrichtungen der Altgläubigen, vor allem in ihrem „Silbernen Zeitalter“ nach dem Toleranzedikt von 1905. A. Klibanov charakterisiert das bemerkenswerte Arbeitsethos der Altgläubigen und das anderer Sektierer.

Der dritte Teil des Bandes ist dem Verhältnis des Altgläubigen-„Schismas“ (razkol) zu Staat und Reichskirche gewidmet. N. Gur’janova verweist darauf, dass die Aufstände im Sibirien des 18. Jahrhunderts entscheidende Impulse aus dem Altgläubigentum empfangen hätten. Dieses sah besonders seit Peter I. in den russischen Zaren den personifizierten Antichrist. Auf diese anti-monarchistische Komponente im Altgläubigentum sei die besonders radikale Prägung einiger Erhebungen zurückzuführen.

Die Bemühungen von Staat und Reichskirche unter Zar Alexander I., das Problem der Altgläubigen zu entschärfen, zeichnet Robert L. Nichols nach: Bekanntlich galt Zar Alexander I. anfangs als in religiöser Hinsicht recht tolerant, sogar als religiöser Schwärmer und Pietist. Die friedliche Zusammenführung der Altgläubigen mit der Reichskirche war ihm ein Herzensanliegen. Seiner Meinung nach sollte einerseits das Bildungsniveau der orthodoxen Priester und Laien angehoben werden, damit diese den Geistlichen und Lehrern der Altgläubigen besser entgegentreten könnten; andererseits wurden Missionspriester herangebildet, die speziell für den Umgang mit Altgläubigen geschult waren. Diesen gutgemeinten Bestrebungen des Zaren folgten die damit beauftragten Staatsbeamten, außer Fürst Alexander N. Golicyn, jedoch nur widerwillig – und auch seitens der Altgläubigen war der Widerstand erheblich. Als um 1822 die pietistische, religiös-indifferente Phase des Zaren abklang (z.B. Verbot der 1812 gegründeten „Bibelgesellschaft“ sowie der Freimaurer), erfolgte ein allmählicher Übergang zur rigorosen Altgläubigen-Politik des Zaren Nikolaj I.

Ein bisher unklares Kapitel der Geschichte des Altgläubigentums erhellt J. E. Clay: die Entstehung der zweiten Altgläubigenhierarchie. Die Hierarchie von Belaja Krinica in der damals habsburgischen Bukovina hatte das kanonische Manko, dass sich 1849 den Altgläubigen nur ein Bischof zur Verfügung gestellt – und er allein weitere Bischöfe geweiht hatte. Den orthodoxen Canones zufolge sind dazu aber mindestens zwei Bischöfe nötig. So gilt bis heute die Hierarchie von Belaja Krinica vielen nicht als vollgültig. – 1923 hatte sich ein Erzbischof der „Neugläubigen“, Nikolaj (Pozdnev) von Saratov, dem nicht der Hierarchie von Belaja Krinica unterstehenden priester­treuen Altgläubigentum zugewandt. Als 1929 ein weiterer Bischof, Stefan (Rostorguev) von Sverdlovsk ebenfalls diesen Schritt vollzog und zu dieser Gruppe stieß, hatte diese einen zweiten Bischof, so dass sie nun – kanonisch korrekt – neue Bischöfe weihen konnte. Aber auch diese Hierarchie – nach ihrem ersten Sitz in Novozybkov (Gebiet Brjansk) benannt – hat einen Makel: Erzbischof Nikolaj (Pozdnev) kam aus dem von den Sowjets gesteuerten „Erneuerer-Schisma“, das in den 20er Jahren der Patriarchatskirche großen Schaden zugefügt hat.

Der Konferenzband erhellt eine Reihe von Aspekten der Geschichte des russischen Altgläubigentums in hervorragender Weise. Bedauerlich ist das Fehlen eines Registers – sowie die Tatsache, dass auch hier wieder die gesamte deutsch-, französisch- und italienischsprachige Forschung ignoriert wird.

Zwei grundsätzliche Bemerkungen sind zudem angebracht. Die priesterlosen Altgläubigen werden in den meisten Beiträgen nicht berücksichtigt. Oder es ist einfach von den Altgläubigen die Rede, worunter dann Priestertreue und Priesterlose subsumiert werden. Das aber ist hochproblematisch, da die Unterschiede zwischen diesenbeiden Gruppen ähnlich gravierend sind wie die zwischen Katholiken und Evangelischen. Die große Zahl der Priesterlosen-Denominationen macht es allerdings schwierig, ja fast unmöglich, sich global zu Problemen der Priesterlosen zu äußern.

Weiterhin fällt – wie in vielen westlichen Publikationen zur Altgläubigen-Thematik überhaupt – der fehlende Bezug zur realen Lebenswelt auf. Zumindest ein kurzer abschließender Beitrag (15 Jahre nach der Konferenz!) hätte auf die Entwicklungen nach 1917 eingehen können, also auf die Altgläubigen in der Sowjetzeit (auch bei ihnen gab es Kollaboration und Märtyrertum); auf die Selbst-Erhebung des Altgläubigen-Erzbistums von Novozybkov zum Patriarchat – aber vor allem auf die Tatsache, dass sich das Altgläubigentum (das priestertreue und fast mehr noch das priesterlose) nach (oder infolge!) der politischen Wende in einer existentiellen Krise befindet.

Gerd Stricker, Zürich

Zitierweise: Gerd Stricker über: Russia’s Dissident Old Believers 1650–1950. Ed. by Georg B. Michels and Robert L. Nichols. Minneapolis, MN: University of Minnesota, 2009. XIV. = Minnesota Mediterranean and East European Monographs, XIX. ISBN: 978-0-9791218-5-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Stricker_Michels_Russia_s_Dissident_Old_Believers.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2012 by Osteuropa-Institut Regensburg and Gerd Stricker. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@osteuropa-institut.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.