Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 3, S.  429-430

Desanka Schwara Unterwegs. Reiseerfahrung zwi­schen Heimat und Fremde in der Neuzeit. Mit einem Vorwort von Dan Diner. Verlag Van­denhoeck & Ruprecht Göttingen 2007. 392 S. ISBN: 978-3-525-36375-1.

In ihrer 2006 an der Universität Basel vorgelegten Habilitationsschrift spürt Desanka Schwara dem Topos Reise in den Lebenswelten jüdischer Diaspora nach. In den multinationalen und multireligiösen Imperien fungierten Juden per se als Grenzgänger, als transnationale Kulturvermittler. Die Anregung zu dieser Studie fand Desanka Schwara gerade auch in ihrer Tätigkeit an dem von Dan Diner geleiteten Simon-Dubnow-Institut.

Das in stilistischer Hinsicht bestechende Werk fragt danach, wie jüdische Wahr­nehmungen von Heimat und Fremde im südosteuropäischen Raum seit der Neuzeit verarbeitet und bearbeitet wurden. Es stellt hier einen innovativen Wegweiser auf dem Feld der jüdischen Kulturanthropologie dar, ist jedoch auch für den Süd- und Osteuropahistoriker, den Orientalisten wie auch für den vergleichend arbeitenden Allgemeinhistoriker gewinnbringend. Die Autorin beleuchtet die Reisewelten in der Habsburgermonarchie, im Osmanischen Reich und im zarischen Russland als einen transnationalen und transkulturellen Raum, den sie als „Knoten-punkt” für jüdische Reisende ausmacht (S. 19). Basierend auf den von Clifford Geertz, Natalie Zemon Davis, Carlo Ginzburg und František Graus entwickelten kulturanthro-pologischen Theoremen, untersucht die Autorin Gewohnheiten, Traditionen, Wertvorstellungen und Mentalitäten jüdischer Reisender. Sie spricht hier von der „immateriellen Kultur“ (S. 22). In ihrer Einleitung beschäftigt sich die Autorin mit einer Reihe von Theorien aus der Kulturanthropologie, der post colonial studies, des Konstruktivismus und der Selbstzeugnisforschung. Schließlich bemüht sie noch das braudelsche Raumkonzept zum Mittelmeer. Diese Darlegungen sind zwar interessant und richtig, doch der direkte Bezug zum Thema „jüdische Reiseerfahrung“ fehlt. Der Abschnitt „Raum und Zeit“, der die historischen Eckdaten (1453 Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen, 1918 Zerfall der drei Großreiche – Zarenreich, Osmanisches Reich, Habsburgermonarchie) für die Arbeit angibt, ist mit zwei Seiten einfach zu kurz geraten. Ereignisse wie die Eroberung Konstantinopels, die Vertreibung der Juden und Muslime aus Spanien (im Rahmen der Reconquista), Reformation und die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus, die auf die Mobilität der Juden Auswirkungen hatten, werden aneinandergereiht. Es ist die Rede davon, dass „Juden bei der Entdeckung der Neuen Welt eine wichtige Rolle gespielt haben“, dass „Palästina ein traditionelles Ziel“ jüdischen Reisens darstellte. Diesem jüdischen Aufbruch vor dem Hintergrund historischer Ereignisse mit globalen Auswirkungen – in einer Zeit rasanter territorialer Entgrenzung – hätte mehr Tiefenschärfe verliehen werden müssen. Auch wird hier der Bezug zum Adria- und Mittelmeerraum nicht konturiert.

Ausgewertet hat die Autorin Reiseberichte, Briefe, Tagebuchnotizen und Aktenmaterial, so u.a. die Akten der Jewish Colonisation Association. Die Gegenüberstellung von Selbstzeugnissen und Akten bietet sich an, da Reisen durch staatliche Gesetze geregelt wurden. Hier verbindet die Autorin in gelungener Weise Struktur- mit Alltagsgeschichte. Desanka Schwara setzt sich mit historischen Raumbegriffen wie „Mittelmeer“, „Levante“, „Balkan“ und „Osteuropa“ auseinander. Dieses terminologische Nebeneinander spricht nach Ansicht der Autorin gerade für eine kulturelle Vielschichtigkeit. Dazu tritt die historische Gemengelage multiethnischer Imperien wie der Habsburgermonarchie, des Osmanischen Reiches und des Zarenreiches. Pointiert wird die politische, wirtschaftliche und juristische Situation der Juden in den drei Imperien gegenübergestellt. Dies ist auch die eigentliche Stärke des Buches. Im wirtschaftlichen Wettbewerb versuchten die Mittelmeeranrainer, durch die Vergabe von Privilegien jüdische Kaufleute zu gewinnen. Entscheidend waren hier die Immunität der Person und des Kapitals. Der Niedergang Venedigs im 18. Jahrhundert führte zugleich zu antijüdischen Maßnahmen. Auch der wirtschaftliche Aufstieg anderer Handelsmetropolen wie Triest und Ragusa lässt sich ohne den jüdischen Anteil nicht erklären. Es waren jüdische Kaufleute, die von dort aus über weitere Städte wie Sarajevo, Belgrad und Sofia ein Handelsnetz woben, das von Mitteleuropa über den Balkan und das Osmanische Reich bis in den Norden Afrikas reichte. Die wirtschaftliche Rezession im 18. Jahrhundert führte jedoch vielerorts – ähnlich wie in Venedig – zu antijüdischen Restriktionen. Hier zieht die Autorin zu Recht den Schluss, dass „der Umgang mit der jüdischen Bevölkerung“ ambivalent und willkürlich war, je nach politischer und wirtschaftlicher Interessenlage (S. 66), was sich in den jüdischen Reiseberichten widerspiegelt.

Bei deren Analyse legt die Autorin den Fokus auf Mentalitäten, Empfindungen und Identitäten. Es war die Zeit des „jüdischen Aufbruchs“, letztlich einer interferierenden Identität, die zwischen Verbundenheit zur Heimat und der Faszination für fremde Welten schwankte. Die meisten Reiseberichte stammen von jüdischen Händlern, aber auch Bildungsreisen wurden im Kontext jüdischer Aufklärung (haskala) unternommen. Freilich hätte der Topos „Reise“ in der haskala-Literatur anhand der Quellen stärker herausgearbeitet werden müssen. Trotz dieser Desiderata erschließt die Habilitationsschrift neue Horizonte.

Eva-Maria Stolberg, Duisburg-Essen

Zitierweise: Eva-Maria Stolberg über: Desanka Schwara: Unterwegs. Reiseerfahrung zwischen Heimat und Fremde in der Neuzeit. Mit einem Vorwort von Dan Diner. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2007. 392 S, ISBN: 978-3-525-36375-1, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 3, S. 429-430: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Stolberg_Schwara_Unterwegs.html (Datum des Seitenbesuchs)