Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012), 1, S. 121-123

Verfasst von: Ludwig Steindorff

 

Élisabeth Teiro: L’Église des premiers saints métropolites russes. Paris: Institut d’études slaves, 2009. XI, 417 S., Abb., Ktn., Graph. = Bibliothèque de l’Institut d’études slaves, 119. ISBN: 978-2-7204-0451-1.

Der dauerhafte Verbleib der Metropolitenresidenz in Moskau war zusammen mit der Bindung des Großfürstentitels an Moskau eine der am Anfang des 14. Jahrhunderts geschaffenen wichtigen Voraussetzungen für das „Sammeln der russischen Länder“ durch den Moskauer Fürsten, für die sukzessive Einbeziehung aller Territorien der nördlichen Rus’ in dessen Herrschaftsbereich. Manche Sachverhalte, die wir über die Geschichte der Metropolie des Moskauer Reiches aus dem Buch von Élisabeth Teiro erfahren, sind schon in anderen Zusammenhängen und mit Bezug auf andere Fragestellungen mehr oder minder ausführlich erfasst und dargestellt, doch als eigener Forschungsgegenstand und in dieser konsequenten Durchführung wird das Thema hier zum ersten Mal bearbeitet.

Es geht nicht um eine allgemeine Synthese zur Geschichte der gesamten Kirchenprovinz, vielmehr um das Amt des Metropoliten selbst, um die Reichweite seiner geistlichen Herrschaft und das Verfügen über Temporalia. Auch wenn die Darstellung bis zur Errichtung des Patriarchates 1589 und der damit verbundenen kanonischen Legalisierung der faktisch bereits 1448 erlangten Autokephalie reicht, liegt der Schwerpunkt doch auf der Zeit bis ans Ende des 15. Jahrhunderts.

Der systematische Aufbau der Arbeit spiegelt sich schon in der feingliedrigen Kapiteleinteilung wieder. Auf das Vorwort von Pierre Gonneau folgt ein knapper Überblick über die Geschichte von „La Russia“ vom 14. bis ins 16. Jahrhundert. Die Autorin unterscheidet dabei, französischen Kollegen folgend (S. 7), zwischen Russia occidentalis im litauischen Einflussbereich und Russia orientalis, dem Moskauer Reich. Sie hat mit dem Beibehalt einer vom Quellenbegriff Rus’ abgeleiteten Terminologie eine nach meinem Dafürhalten glücklichere Lösung gewählt als die in der deutschsprachigen Fachterminologie verbreitete Verwendung von „ostslawisch“ als Oberbegriff.

Im Überblick  zu den Quellen werden die einzelnen Chroniken und die Urkundengruppen vorgestellt. Als Entsprechung zu letopis’ hat sich parallel zu deutsch „Chronik“ im Französischen chronique durchgesetzt, obwohl es sich entsprechend der Klassifikation erzählender Quellen klar um Annalistik handelt.

Im Abschnitt über die Eparchien der Metropolie werden vorweg die erfolgreichen und gescheiterten Neugründungen wie auch die Verlegung von Sitzen behandelt, wobei die Quellenlage hierzu fallweise sehr dürftig ist. Bis 1415 kann man nur von einer Residenz des Metropoliten in Moskau sprechen; der Sitz war offiziell immer noch in Kiev. Erst mit der Errichtung einer neuen Kiever Metropolie unter Grigorij Camblak 1415 für die Russia occidentalis war Moskau auch Sitz seines Metropoliten; doch bis der Stadtname auch Eingang in die Intitulatio fand, sollte noch lange Zeit vergehen (S. 112). Die Moskauer Metropolie konnte sich auf personale, die Kiever Metropolie auf lokale Kontinuität seit der Christianisierung berufen.

Ein Kapitel ist der Laufbahn der Hierarchen gewidmet. Aus der Abhandlung von Herkunft, Amtseinführung und damit verbundenen Insignien, Orten und Tagen der Konsekration entsteht geradezu eine Kollektivbiographie. Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts fanden alle Weihen am Sonntag statt; von 96 nachgewiesenen Daten fällt nur je eine Weihe auf Montag und die Fastentage Mittwoch und Freitag (Tabelle S. 183). Hier wäre zu prüfen, ob in den jeweiligen Jahren auf diese Wochentage fasten­brechende Feste fielen.

Nach einer Einführung über den dezentralen Aufbau von Heiligenkulten in der Ostkirche geht Élisabeth Teiro auf die heiligen Metropoliten Petr, Aleksej, Iona und Filipp I. wie auch den erst spät kanonisierten Aleksej und den nur ausnahmsweise als heilig konnotierten Fotij ein. Bezogen auf die ersten vier, hätte die Autorin die Arbeit von Günter Stökl: Staat und Kirche im Moskauer Rußland. Die vier Moskauer Wundertäter, in: JGO 29 (1981), S. 481493, heranziehen können.

In der Einleitung zum umfangreichsten Kapitel, dem über die Temporalia des Metropoliten, bespricht Frau Teiro die Formen des Besitzgewinnes: Übernahme von Temporalia von Suffragen, Stiftungen, Kauf, Tausch und nicht eingelöste Pfänder. Leider dürftig und ohne Verweis auf neuere Forschungen sind hier die Ausführungen zur Gegengabe für Stiftungen, nämlich zur liturgischen Kommemoration und der damit verbundenen Schriftlichkeit (S. 239). Die Praxis in den Kirchen des Metropoliten glich offensichtlich der in den großen Klöstern. Zu Recht merkt Frau Teiro an, dass ein Großteil der Geldstiftungen nicht nachgewiesen sein dürfte (S. 241). Doch es stimmt nicht, dass Testamente die wichtigste Quelle zur Ermittlung des Umfangs von Vermögen durch Stiftungen sind. Testamente regeln die Vermögensaufteilung unter den Angehörigen, die Bestattung und das Gedenken in den Fristen unmittelbar nach dem Tod. Die großen, dauerhafte Kommemoration begründenden Stiftungen erfolgen getrennt vom Testament. Soweit es sich um Immobilien handelt, verfügen wir über die Stiftungsurkunden, für andere Stiftungsgüter stehen in der Regel erst seit der Mitte des 16. Jahrhunderts die Stiftungsbücher zur Verfügung.

Wie aus den weiteren Ausführungen in diesem Kapitel deutlich wird, blieb der materielle Besitzstand des Metropoliten unabhängig von der allmählichen Zurückdrängung seines Einflusses auf die weltliche Herrschaft weitgehend stabil. Ihm unterstand eine Reihe von Klöstern auch außerhalb seiner eigenen Moskauer Eparchie. Wie ein weltlicher Herrschaftsträger vergab der Metropolit Ländereien. Den Grund dafür, dass der Metropolit nicht einzelnen Personen ermöglichte, geschlossene Besitzungen aufzubauen, sondern weit verstreute pomest’ja vergab, vermutet die Autorin darin, dass er damit geradezu zum Verzicht auf Teile des Streubesitzes drängen wollte (S. 289). Eher ging es darum, herrschaftliche Präsenz durch Verflechtung der Besitzstrukturen zu sichern, so wie es nach meiner Ansicht auch kein Zeichen von Schwäche und wirtschaftlicher Unfähigkeit war (so S. 306), sondern der Intention des Metropoliten entsprach, seine eigenen Besitzungen nicht zu konzentrieren, sondern über das Land zu streuen.

In den Privilegien des Großfürsten zugunsten des Metropoliten – oder eines anderen geistlichen Empfängers – sollte man nicht nur die Anliegen der Sicherung des Seelenheiles und der Gewinnung von Loyalität erkennen (so S. 281); die Ausstellung des Privilegs war zugleich ein Akt symbolischer Vereinnahmung des vom Privileg erfassten Territoriums. Dass die Privilegien oft explizit befristet waren und in der nächsten Generation erneuert wurden, lässt weniger auf einen Rücknahmevorbehalt schließen (S. 282) als darauf, dass das Herrschaftsverständnis erst bedingt entpersonalisiert war.

Die Entscheidung, für russische Termini konsequent französische zu setzen, z. B. livres fonciers für piscovye knigi (S. 235) oder franche aumône für vklad, ist nicht nur stilistisch begründet, sondern sie entspricht dem Ziel des Verweises auf Parallelen in Ost und West. Ich selbst hätte bei der Adaption von Namen, z. B. Dionisie zu Denis, gezögert, denn der Name war ja an ein Individuum gebunden. Das gewählte Verfahren unterstreicht die Gemeinsamkeit der Namengebungspraxis über die Kirchengrenzen hinweg. Da allerdings im Russischen ein Bistum mit dem griechischen Fremdwort eparchija bezeichnet wird, wäre statt der häufigen Verwendung des auf die Westkirche verweisenden Terminus diocèse der konsequente Gebrauch von eparchie im Text angemessener gewesen. (Bei der Bezeichnung der Metropolie der Rus’ als plus vaste diocèse des Patriarchates von Konstantinopel auf S. 20 handelt es sich offensichtlich um ein Versehen, korrekt wäre province.)

Dem Buch sind einige Anhänge beigegeben; besonders gelungen ist das Schema der offiziösen innerkirchlichen Kommunikationswege auf S. 314. Warum in der Liste der Metropoliten die zweite Amtszeit von Kiprian 13851406 (S. 309) übersprungen ist, bleibt mir allerdings unklar. Weil Kiprian noch einmal die ganze Russia kirchlich vereinte und in Kiev residierte? Im Anhang sind auch drei zentrale Quellentexte ins Französische übersetzt. Unabhängig von dem bedauerlichen Umstand des Germanica non leguntur bleibt festzuhalten, auf einer wie breiten Grundlage an Quellen und Forschungsliteratur Frau Teiro ihre Arbeit aufbaut. Das Buch ist sehr gut erschlossen durch ein Personenregister, in dem über den Namen hinaus auch Funktion und Lebensdaten vermerkt sind, durch ein Ortsregister wie auch ein Register der zitierten Quellenstellen.

Gerade dank dem klaren Aufbau können wir die Arbeit von Élisabeth Teiro geradezu als Handbuch benutzen, und wir erhalten zugleich ein Raster für komparativ angelegte Untersuchungen. Die genetischen Gemeinsamkeiten der Kirchenorganisation in Ost und West zeichnen sich in aller Deutlichkeit ab. Bezogen auf die materielle Absicherung der geistlichen Hierarchie lassen sich strukturelle Gemeinsamkeiten des Moskauer Reiches mit dem hochmittelalterlichen Westeuropa erkennen. Ein deutlicher Unterschied besteht in der Rekrutierung der Hierarchen: In der Ostkirche aus dem Mönchtum, in der Westkirche aus dem Weltklerus. Und wie auch die Arbeit von Frau Teiro in aller Deutlichkeit zeigt: Der politische Handlungsspielraum der Hierarchie gegenüber dem weltlichen Herrscher des Moskauer Reiches war – in der aus Byzanz entlehnten Tradition der Dyarchie stehend – im Vergleich zum hochmittelalterlichen Westen deutlich geringer.

Ludwig Steindorff, Kiel

Zitierweise: Ludwig Steindorff über: Élisabeth Teiro L’Église des premiers saints métropolites russes. Paris: Institut d’études slaves, 2009. XI. = Bibliothèque de l’Institut d’études slaves, 119. ISBN: 978-2-7204-0451-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Steindorff_Teiro_Eglise_des_premiers_saints.html (Datum des Seitenbesuchs)

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