Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 3, S.  449-450

T. Mills Kelly Without Remorse. Czech National Socialism in Late-Habsburg Austria. East European Monographs Boulder, CO; distributed by Columbia University Press New York 2006. VII, 235 S., Tab., Ktn., Abb. = East European Monographs, DCLXXXIX.

Die Tschechische Nationalsoziale Partei (Česká strana národně sociální; häufig auch als Nationalsozialistische Partei bezeichnet) wurde 1897 gegründet. Dies geschah in Abgrenzung zur Tschechischen Sozialdemokratischen Partei, die in den Parlamentswahlen – trotz des Zensuswahlrechts – ein Drittel der Stimmen gewonnen hatte. Gegen deren internationalistische Ausrichtung formulierten tschechische Nationalisten ein populistisches Credo, demzufolge sie besonders die tschechischen Arbeiter aus der nationalen und sozialen Unterdrückung befreien wollten. T. Mills Kelly verfolgt in seiner Monographie die Geschicke dieser Partei bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Die ersten zwei Kapitel sind dem sozialen und ökonomischen Kontext sowie der tschechischen Politik bis 1897 gewidmet. Kapitel 3 legt die Ideologie sowie verschiedene Kampagnen der Gründungszeit dar. Der Verfasser unterstreicht den Egalitarismus und die Xenophobie der Partei. So stritten die tschechischen Nationalsozialisten einerseits für das Frauenstimmrecht und den Pazifismus, sie bedienten sich aber andererseits einer aggressiven antisemitischen und antideutschen Rhetorik. Dies perzipiert der Autor als paradox. Zudem verfolgte die Partei eine „Politik der Straße“, d.h. sie setzte sich mit Massenveranstaltungen und teilweise gewalttätig endenden Demonstrationen gegen die Kompromissbereitschaft der konkurrierenden tschechischen Parteien ab. Die ersten Parlamentswahlen unter den Bedingungen des allgemeinen Männerstimmrechts 1907 werden im 4. Kapitel als „erster großer Test“ dargestellt. Dabei erhielten die radikalen Nationalisten 9 % der tschechischen Stimmen. Ihre Hochburgen hatten sie in den tschechischen Städten; in Mähren und Schle­sien konnten sie sich nicht durchsetzen. Ka­pitel 5 unternimmt einen eingehenden Abgleich der lokalen Wahlergebnisse mit den Daten zur sozioökonomischen Entwicklung. Der Verfasser kommt zu dem Schluss, dass die radikalen Nationalisten besonders in jenen städtischen Wahlbezirken gewannen, in denen die Lebensqualität (gemessen an Kindersterblichkeit, Lebenserwartung und grundlegender Alphabetisierung) in der zweiten Hälfte des 19. Jahr­hunderts vergleichsweise hoch gewesen war und nun stagnierte. Die Jahre nach 1907 waren von schweren Konflikten zwischen den Tschechen und der Regierung, zwischen Tschechen und Deutschen in den böhmischen Ländern wie auch der tschechischen Parteien untereinander geprägt (Kapitel 6). Insbesondere in der Balkanpolitik gingen die Meinungen der tschechischen Parteien weit auseinander. Nur die Nationalsozialen und die Realistische Partei des späteren Präsidenten Masaryk solidarisierten sich offen mit den Südslawen. Das letzte Kapitel widmet sich den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg und zeichnet vor allem die wechselnden Koalitionen nach, wobei es nun zu einer Zusammenarbeit der nationalen Sozialisten mit den zuvor von denselben für ihre „positivistische“ Politik hart kritisierten Jungtschechen kam.

Das Werk erinnert der Methodik und dem Stil nach an sozialgeschichtliche Monographien der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Originalität beansprucht es allein in der Analyse der Wahlergebnisse von 1907, und auch diese kommt zu keinem überraschenden Ergebnis. Das konstatierte Paradox einer frauenfreundlichen und zugleich judenfeindlichen Partei scheint zudem nur in der gewählten Perspektive verwunderlich. Dass die „Frauenfrage“ in den dominierten Nationen der Habsburgermonarchie als nationale Frage galt, haben geschlechtergeschichtliche Arbeiten längst gezeigt. Das Buch ist darüber hinaus unübersichtlich und hat kein Register. So eignet es sich auch zu Studienzwecken nur bedingt.

Natali Stegmann, Regensburg

Zitierweise: Natali Stegmann über: T. Mills Kelly: Without Remorse. Czech National Socialism in Late-Habsburg Austria. East European Monographs Boulder, CO; distributed by Columbia University Press New York 2006. VII, 235 S., Tab., Ktn., Abb. = East European Monographs, DCLXXXIX, ISBN: 978-0-88033586-7., in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 3, S. 449-450: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Stegmann_Kelly_Without_Remorse.html (Datum des Seitenbesuchs)