Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 4, S.  621–622

Frances Lee Bernstein The Dictatorship of Sex. Lifestyle Advice for the Soviet Masses. Northern Illinois University Press DeKalb, IL 2007. XVII, 246 S., 20 Abb.

Die Titelseite einer Ausgabe der Monatszeitschrift „Put’ k zdorov’ju“ („Der Weg zur Gesund­heit“) aus dem Jahre 1926 ist ausschließlich der „geschlechtlichen Frage“ (polovoj vop­ros) gewidmet. Unter dem Text zeigt sie eine Abbildung zum Thema: In einer mustergültigen proletarischen Stube sitzen Mann und Frau in gebührendem Abstand voneinander an den gegenüberliegenden Kopfenden ihres (mit bodenständiger Kost gut bestückten Tisches) und würdigen sich keines Blickes. Die Frau (mit klas­sischem Kopftuch) liest in der „Pravda“, der Mann (im traditionellen Arbeiterhemd) schnitzt unter den gestrengen Augen des von der Wand starrenden Lenin ein Holzspielzeug (bezeichnenderweise ein Militärflugzeug) für den Sohnemann, der brav und geduldig im Hintergrund wartet. Eine Idealszene aus dem Leben einer ordentlichen werktätigen sowjetischen Familie: vse na meste – alles an seinem rechten Platz. Aber, so fragt Bernstein zurecht, „Where is the sex in this pictorial …?“ (S. 159).

Diese asexuelle bildliche Ausgestaltung der „geschlechtlichen Frage“ führt anschaulich das Thema der Studie vor Augen: Es geht um frühsowjetische Konzeptionen von Sexualität, die sich plakativ so zusammenfassen ließen: Geschlechtsverkehr ist ein notwendiges Übel, das ausschließlich der Fortpflanzung zur Weiterentwicklung des Sozialismus dient. „Normaler“ oder „gesunder“ Sex reduziert sich damit auf die – nach Möglichkeit lust- und erotikfreie – Zeugung künftiger Werktätiger. Was darüber hinausgeht, ist verdorben und zersetzend, hat im bourgeoisen Kapitalismus seinen Platz und bedroht den erfolgreichen Aufbau der sozialistischen Gesellschaft. Mit diesem – vielfach exemplifizierbaren und diversifizierbaren – Diskurs ist ein Kernergebnis von Bernsteins Untersuchung umrissen. Sie handelt von der neuen Disziplin der sexualmedizinischen Aufklärung in Russland von 1918 bis 1931 und stellt deren Konzepte, Diskussionen, Problemwahrnehmungen und Lösungsvorschläge im Kontext eines am uniformen Wohlergehen seiner Bevölkerung interessierten Volkskommissariats für Gesundheit (Narkomzdrav) vor.

Die Perspektive sowjetischer Mediziner auf Sexualität und Geschlecht stellte einen vom Regime unterstützten Fachdiskurs mit soziopolitischer Zielsetzung dar. Die vielfältigen Bedürfnisse, Wünsche und Gewohnheiten der Gesellschaft flossen in diesen Diskurs nur insofern ein, als man sie mit den Postulaten der institutionalisierten sexualmedizinischen Aufklärung abglich, Abweichungen feststellte und deren Aus­merzung empfahl. Obwohl die Mediziner ihre Diskurse auch dazu gebrauchten, um – hier folgt die Autorin Foucault – ihre eigene professionelle Autorität oder Machtausübung zu etab­lieren, kann nicht in Abrede gestellt werden, dass sie durchaus hehre Motive verfolgten: Die Befreiung des sowjetischen Menschen von Syphilis und Tripper, die Austrocknung der Prostitution, die Bewahrung der Jugend vor dem Exzess, die Verhinderung von Massenneurasthenien und die Umlenkung der körperlichen Energien auf gesellschaftlich nützliche Aktivitäten.

Die Rigidität der Konzeptionen, aber auch ihre Traditionalität im Sinne überkommener Geschlechterrollen mag überraschen, wenn man sich mit heutigem Horizont der Sache nähert oder zumindest die sowjetischen Zwanzigerjahre als Zeit eines liberalen „Jeder-darf-jetzt-Alles-Prinzips“ interpretiert. Wir wissen doch längst aus anderen Bereichen, dass der befreiende Enthusiasmus der Bol’ševiki ein Strohfeuer war, das hier kürzer, dort länger weiterglomm. Bernstein kann ihre Entrüstung über die Negierung sexuellen Sich-Verwirklichen-Wollens, vor allem aber über die deutliche Unterordnung des weiblichen Geschlechts kaum verbergen, schlossen doch die Vorstellungen vom weitgehend freudlosen, sachlich-utilitaristischen Sex auch eine zementierte Rollenverteilung mit ein, was darauf hinauslief, dass der eigentliche weibliche Orgasmus in der Geburt des Kindes bestehe. Von einer Akzeptierung homosexueller Praxis müssen wir, das ist wohl schon klar geworden, im Zusammenhang der sowjetischen Sexualaufklärung überhaupt nicht weiter reden.

Woher diese Traditionalität und Rigidität der Mediziner kam, dazu verliert Bernstein, abgesehen von knappen Andeutungen zur vorrevolutionären Akkulturierung der Ärzte, nur wenige Worte. Schade. Viel mehr interessiert sie der Ausblick „nach vorne“, in die Dreißigerjahre. Nach 1931 wurde die „sexuelle Frage“ zu einem Thema non gratum; diejenigen, die sich mit ihm weiter auseinandersetzten, wurden zu personae non gratae. Wie so viele andere Fragen, wurde natürlich auch die „Geschlechtsfrage“ Anfang des neuen Jahrzehnts für „gelöst“ erklärt. Damit brauchte man selbstredend die ganze sexual­me­di­zinische Konversation nicht mehr – und wer meinte, in die Diskussion alter, längst gelöster Probleme zurückfallen zu müssen, der wurde gnadenlos verfolgt und bestraft. Die Tatsache, dass der stalinistische Umgang mit Sexualität und Geschlecht inhaltlich den Linien des professionellen Diskurses der Zwanzigerjahre glich, also ganz engen Konzepten nützlicher Sexualität und traditioneller Geschlechter­rollen folgte, bringt Bernstein zu dem Gedanken, dass die sowjetischen Ärzte dazu beigetragen hätten, den Stalinismus entstehen zu lassen. Die Autorin tat gut daran, diese These nicht weiter auszubauen. Gleiches gilt für die Äußerung, „the sex question is crucial to any understanding of the political and ideological debates that dominated center stage in the 1920s“ (S. 4). Wirklich? Da übersteigt wohl doch die Faszination vom eigenen Thema ein wenig die Generalisierbarkeit der Befunde.

Ob die Leserschaft die Begeisterung der Autorin für das Thema teilen wird? Der Rezensent jedenfalls fand die Diskurse über Geschlechtskrankheiten, Kastration, vorzeitige Ejakulation, Masturbation, verfrühten Verkehr, Frigidität und die gesunde Langeweile schnell ermüdend. Dazu mag auch beigetragen haben, dass Bernstein die Diskurse „fließen“ lässt, sie nicht bündelt, Wiederholungen nimmt, wie sie kommen, mit Details nicht knausert und im Gesamtfokus doch sehr auf ihr Thema konzentriert bleibt. Dennoch hat die Studie ihre Verdienste: Material- und bildreich stellt sie mit den sexualmedizinischen Diskursen eine weitere „Front“ frühsowjetischen Eiferns vor und gibt damit ein anschauliches Beispiel für den typischen Machbar­keitswahn der Bol’ševiki, für den Glauben, erst durch Aufklärung, dann durch Sanktionen eine uniformierte Gesellschaft der Werktätigen schaffen zu können, die ihr ganzes Leben ausschließlich dem Ziel des sozialistischen Aufbaus widmen sollten. Auch wenn die Medizinal­profession sicher nicht den Stalinismus schuf, so stützt Bernsteins gründliche Arbeit auf ihre Art doch das Argument eines engeren Zusammenhanges zwischen bolschewistischen Zwan­ziger- und Dreißigerjahren – in beiden Jahr­zehnten definierte sich der Mensch für das Regime und seine fachlich-institutionellen Apparate nur als entindividualisierte Funktion einer recht steril vorgestellten sozialistischen Gesellschaft.

Matthias Stadelmann, Erlangen-Nürnberg

Zitierweise: Matthias Stadelmann über: Frances Lee Bernstein: The Dictatorship of Sex. Lifestyle Advice for the Soviet Masses. Northern Illinois University Press DeKalb, IL 2007. ISBN: 978-0-87580-371-5, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 4, S. 621–622: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Stadelmann_Bernstein_The_Dictatorship.html (Datum des Seitenbesuchs)