Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

 

Ausgabe: 59 (2011) H. 1

Verfasst von:Stephan Scholz

 

Juliane Haubold-Stolle Mythos Oberschlesien. Der Kampf um die Erinnerung in Deutschland und in Polen 1919–1956. Osnabrück: fibre Verlag, 2008. 518 S. = Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau, 14. ISBN: 978-3-938400-39-5.

Die leicht gekürzte Fassung der in Göttingen 2006 vorgelegten Dissertation von Juliane Haubold-Stolle setzt einen erfreulichen Trend jüngerer Forschungsarbeiten fort, die sich mit der deutsch-polnischen Kontaktzone beschäftigen und dabei beide Seiten gleichermaßen intensiv behandeln. Besondere Beachtung finden seit einiger Zeit insbesondere solche Regionen, die wegen ihrer nationalen Diffusion und Indifferenz lange vernachlässigt worden sind. Dazu zählt auch Oberschlesien, die Region, der sich Haubold-Stolle zuwendet, um gerade an diesem Beispiel zu zeigen, wie nationale Identität in einer Region konstruiert wurde, in der die nationale Zuordnung der Bevölkerung schwierig und ihr nationales Bewusstsein lange Zeit nur wenig ausgeprägt war. Ausgehend vom Theorem der Nation als imagined community konzentriert Hau­bold-Stolle sich auf die Rolle nationaler Narrative, die bewusstseinsstiftend oder -fördernd wirkten. Im Zentrum ihrer Arbeit stehen die Versuche und die dabei angewendeten Mechanismen, Oberschlesien einen eindeutigen nationalen Charakter zuzuschreiben und es in die nationalen Narrative Deutschlands und Polens einzuschreiben. Ihre Ausgangsthese ist dabei, dass diese Zu- und Einschreibung insbesondere durch die parallel sich vollziehende Konstruktion eines „Mythos Oberschlesien“ stattgefunden hat. Haubold-Stolle rekonstruiert diese Mythen, ihre zentralen Elemente, ihre Popularisierung und Institutionalisierung. Sie tut dies gleichermaßen für die deutsche und die polnische Seite, wobei in dem untersuchten Zeitraum von 1919 bis 1956 der Zweite Weltkrieg eine tiefe Zäsur bildet, die den „Mythos Oberschlesien“ aber auf beiden Seiten nicht geschwächt, sondern eher noch gestärkt hat.

Konstituierend für den „Mythos Oberschlesien“ blieben dabei die Elemente, die sich schon kurz nach dem Ersten Weltkrieg zwischen 1919 und 1921 ausgebildet hatten, als es um die Zuweisung Oberschlesiens zu Deutschland oder Polen ging. Die von den Alliierten angeordnete Volksabstimmung mit dem Ergebnis einer deutschen Mehrheit und die polnischen Aufstände, die letztlich eine Aufteilung bewirkten, die insbesondere von der deutschen Seite als ungerecht empfunden wurde, waren und blieben die zentralen Bezugspunkte, die fortan einer nationalen Mythisierung unterlagen. Die Bilder und Argumente der Abstimmungs- und Aufstandszeit wurden dabei auf beiden Seiten zur „Basis der mythischen Oberschlesien-Erzählung“ (S. 66) und zum Ausgangspunkt des weiteren „imaginativen Kampfes um die nationale Zugehörigkeit“ (S. 81).

Die Analyse der zentralen Elemente der Mythen, die in den folgenden Jahrzehnten immer wieder verwendet wurden, wie z.B. das Schlagwort von der „blutenden Grenze“, das Bild vom „Land unterm Kreuz“ oder die sakrale Aufladung des Sankt Annaberges, hätte noch etwas tiefenschärfer ausfallen können, insbesondere im Hinblick auf ihren sakralisierenden Gehalt, der zu Recht wiederholt betont wird, aber doch etwas blass bleibt. Neben dem Narrativ selbst werden aber auch ausführlich die sozialen und politischen Prozesse und Strukturen untersucht, in denen es benutzt wurde. Für beide Seiten werden das Netz der Schlesienlobbyisten, ihre innen- wie außenpolitischen Ziele, die Formen und Medien ihrer Erinnerungspolitik und ihre Institutionalisierungen verfolgt und aufgedeckt. Es bleibt dabei allerdings nicht allein bei einer parallelen Analyse, die viele Analogien aufzeigt, es werden auch die zahlreichen gegenseitigen Bezüge deutlich gemacht.

Konstitutiv für die Stabilität der Oberschlesien-Mythen war auf beiden Seiten die Unzufriedenheit der Deutschen mit der Grenzziehung und der daraus resultierende Revisionswunsch. Er bedingte eine grundlegende Asymmetrie in der Funktion der Mythen, die – unabhängig vom Grad der Mobilisierung auf deutscher Seite eine grundsätzlich aggressive und auf polnischer Seite eine abwehrende war. Das gilt sowohl für die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg als auch danach, als Schlesien in seiner Gesamtheit Polen zugeschlagen war, während bis 1939 nur der östliche Teil Oberschlesiens zu Polen gehört hatte. Während der Oberschlesien-Mythos auf polnischer Seite nun zu einem Teil der staatstragenden Ideologie von den „Wiedergewonnenen Gebieten“ transformiert wurde, revitalisierte er sich in der Bundesrepublik nahezu unverändert zu einem Element der Revisionspropaganda. Krieg und Besatzung hatten hier keine Modifizierung bewirkt.

Während der Oberschlesien-Mythos in den nachfolgenden Jahrzehnten in Polen ein lebendiger Teil des nationalen Narrativs blieb, wurde er in der Bundesrepublik immer mehr ein isolierter Gegenstand der Erinnerungspflege von Vertriebenenverbänden ohne Ausstrahlung auf die Gesamtgesellschaft. Das formulierte Ziel der sehr lesenswerten Arbeit von Haubold-Stolle, nicht nur die Konstruktion und Funktionsweise der Oberschlesien-Mythen zu analysieren, sondern auch die „Wirkungskraft der Mythen einzuschränken“ (S. 22), dürfte daher heute hoffentlich überflüssig sein.

Stephan Scholz, Oldenburg

Zitierweise: Stephan Scholz über: Juliane Haubold-Stolle Mythos Oberschlesien. Der Kampf um die Erinnerung in Deutschland und in Polen 1919–1956. fibre Verlag Osnabrück 2008. = Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau, 14. ISBN: 978-3-938400-39-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Scholz_Haubold_Stolle_Mythos-Oberschlesien.html (Datum des Seitenbesuchs)

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