Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 59 (2011) H.4

Verfasst von: Felix Schnell

 

Simon Pirani: The Russian Revolution in Retreat, 1920–1924. Soviet Workers and the New Communist Elite. London, New York: Routledge, 2008. XIV, 289 S., Abb. = BASEES/Routledge Series on Russian and East European Studies, 45. ISBN: 978-0-415-43703-5.

Warum wurde aus der Russischen Revolution, was aus ihr wurde? Simon Pirani geht diese alte Frage noch einmal neu an – expressis verbis von einem sozialistischen Standpunkt aus. „Sozialistisch“ bedeutet für den Autor zunächst ganz klassisch, die Revolution als emanzipatorische Bewegung der Arbeiterklasse zu deuten, die auf die Überwindung entfremdeter Arbeit und kapitalistischer Produktionsbeziehungen im Allgemeinen abzielte. Als methodische Grundlage der Studie soll dabei die nichtessentialistische Klassentheorie von E. P. Thompson dienen – von der man allerdings nach der Einleitung nichts mehr hört und liest; empirisches Anschauungs- und Demonstrationsobjekt ist die Moskauer Arbeiterschaft.

Ausgangspunkt von Piranis Studie ist seine Feststellung, dass die Russische Revolution als eines der folgenreichsten Schlüsselereignisse des 20. Jahrhunderts in Russland schon nach wenigen Monaten an ihr Ende kam: Denn aufgrund der Versorgungsprobleme und des beginnenden Bürgerkrieges ersetzten die Bol’ševiki die freie Arbeitsorganisation in den Fabriken schnell wieder durch Arbeitsdisziplin und Ein-Mann-Führung.

Damit trat nach Pirani keineswegs die Essenz des Bolschewismus zutage. Vielmehr seien es die Umstände gewesen, die basisdemokratische Ansätze in der Partei zugunsten autoritärer Herrschaftsverfahren in den Hintergrund gedrängt hätten. Auch für die Entwicklung der Arbeiterklasse selbst seien die Umstände verderblich gewesen: Die Bürgerkriegsphase habe die Bereitschaft hervorgebracht, einem „Gesellschaftsvertrag“ (social contract) zuzustimmen, nach dem die Arbeiterklasse zugunsten materieller Grundsicherung und Hebung des Lebensstandards auf politische Mitbestimmung verzichtete und der Partei der Bol’ševiki die Herrschaft überließ. Dieser Gesellschaftsvertrag soll Pirani zufolge auf so festem Grund gestanden haben, dass die „Arbeiteropposition“ nach dem Ende des Bürgerkrieges nie eine reale Chance hatte, das Machtmonopol der Bol’ševiki in Frage zu stellen.

Die Revolution starb an der Herausbildung eines neuen Klassenantagonismus: Die Parteielite bemächtigte sich der Partei und sei so an die Stelle der alten herrschenden Klasse getreten – die Arbeiterklasse sei damit erneut Gegenstand von Disziplinierung, Unterdrückung und Ausbeutung geworden. Ob ein auf die ganze Russische Revolution gerichtetes Erkenntnisinteresse sich auf Parteielite und Moskauer Arbeiterschaft beschränken und einen weiteren wichtigen Faktor – die Bauern – ohne weiteres außer Acht lassen kann, sei dahingestellt.

Das latent durchschimmernde Thema des Buches ist die vertane Chance auf eine bessere Welt, und Piranis Sympathie gehört denjenigen Arbeitern, aber auch Intellektuellen und Schriftstellern, die von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit träumten. Das ist legitim, aber problematisch, wenn sozialistische Utopien als reale historische Alternativen gedacht werden.

Pirani verzichtet darauf, der Frage nachzugehen, ob sich in der Entwicklung der Russischen Revolution nicht diejenigen Grundlagen durchsetzten, die Lenin mit der Begründung einer hierarchisierten Kaderpartei bereits lange vor der Revolution gelegt hatte. Auch wird die Frage nicht ernsthaft diskutiert, ob Manichäismus und Machiavellismus der Bol’ševiki nicht gerade den Kern der revolutionären Entwicklung seit Winter 1917 darstellten. Für Pirani scheint die Revolution eine absolute historische Entität zu sein, die sich intrinsisch durch Aufhebung der Klassengesellschaft sowie durch massendemokratische Partizipation auszeichnet und die von den Bol’ševiki buchstäblich verfälscht wurde. Das scheint auch der Titel anzudeuten, nach dem die Revolution seit 1920 „auf dem Rückzug“ gewesen sei. Die implizite Annahme, dass eine Revolution ein Moment anarchischer Gleichberechtigung aller Menschen sei und außerdem als solche auf Dauer gestellt werden könnte, wird nicht jeder teilen wollen. Dass umgekehrt revolutionäre Staatsbildung ein starkes Moment der Einschränkung von Freiheit und politischer Gleichheit in sich trug, muss nicht verwundern. Die Frage ist wahrscheinlich nicht ob, sondern nur, in welchem Maße sich soziale Ungleichheit dabei ausbildete.

Damit kommen wir zu den Stärken des Buches, die eindeutig im empirischen Bereich liegen. Pirani entfaltet in den ersten sechs Kapiteln ein umfassendes Panorama der Moskauer Arbeiterschaft und zeigt überzeugend die 1920/21 weitverbreitete Ernüchterung über die Diskrepanz zwischen Utopie und Realität. Er macht deutlich, dass es nicht nur die politische Entmachtung der Basis sowohl in den Betrieben als auch in der Partei war, die so ernüchternd wirkte, sondern allem voran die materielle Privilegierung der neu entstehenden Herrscherklasse.

Diese Klasse der höheren Parteifunktionäre wird im siebenten Kapitel vorgestellt; sie erhält dabei aber nicht das scharfe Profil, das man angesichts der Fragestellung erwarten könnte. Die letzten beiden Kapitel schließlich sind der Praxis des Sozialkontrakts und der endgültigen Machtübernahme der von Stalin angeführten Parteielite gewidmet.

Das von Pirani gut aufbereitete empirische Material ist beeindruckend, aber wir erfahren dadurch allenfalls interessante Details, grundsätzlich Neues jedoch nicht. Dass Anspruch und Wirklichkeit der Revolution von Beginn an auseinanderfielen, ist gut bekannt. Auch der Umstand, dass sich bereits früh andeutete, was dann als „Nomenklatura“ in der Sowjetunion seine Form fand, ist wohl weitgehend unstrittig. Das innovative Element des Buches wiederum ist zugleich das problematischste: die Interpretation der Entwicklung des revolutionären Staates als Neuauflage des Klassenantagonismus. Es gelingt Pirani meines Erachtens nicht, „die Arbeiterschaft“ als historischen Akteur oder zentralen Bezugspunkt der Arbeiter zu erfassen – im Gegenteil: Die meisten Belege deuten eher auf einen Mangel an Klassenbewusstsein und entsprechender Praxis hin. Dass in verschiedenen Kontexten immer wieder „Wir-und-sie“-Dichotomien festgestellt werden können, ist dabei noch kein Beweis für Klassenbewusstsein, denn diese Dichotomien verliefen nicht nur zwischen ‚oben‛ und ‚unten‛, sondern auch zwischen Belegschaften, Branchen, den Geschlechtern, entlang von ethnischer Differenz und regionaler Herkunft. Es scheint wenig gewonnen, wenn man eine Klasse konstruiert, deren einziges Kriterium in der Exklusion von Privilegien besteht. Im Gegenteil – die Binnendifferenzen und Strukturen dessen, was man als Arbeiterschaft bezeichnen kann, drohen zu verschwimmen.

Plausibler scheint die Rede von der Klasse im Falle der entstehenden Nomenklatura. Doch auch hier stellt sich die Frage, ob sie nicht allenfalls eine interessante Metapher ist, aber als analytische Kategorie den Blick auf die Besonderheiten der neu entstehenden sowjetischen Oberschicht eher verstellt. Erweisen sich Klassenmodelle schon bei der Beschreibung „kapitalistischer“ Gesellschaften als zu sperrig, so scheint dies gerade in der frühen Sowjetunion der Fall zu sein, in der weder von Privatbesitz der Produktionsmittel, noch von fast unüberwindlichen kulturellen oder gesellschaftlichen Barrieren die Rede sein kann.

Kurzum: Die gut recherchierte Basis des Buches trägt schwer an seinem theoretischen Überbau.

Felix Schnell, Berlin

Zitierweise: Felix Schnell über: Simon Pirani The Russian Revolution in Retreat, 1920–1924. Soviet Workers and the New Communist Elite. Routledge London, New York 2008. XIV. = BASEES/Routledge Series on Russian and East European Studies, 45. ISBN: 978-0-415-43703-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schnell_Pirani_The_Russian_Revolution.html (Datum des Seitenbesuchs)

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