Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 61 (2013), 1, S. 148-149

Verfasst von: Jürgen W. Schmidt

 

Ljubov’ A. Boeva: „Osobennaja kasta“. VČK-OGPU i ukreplenie kommunističes­kogo režima v gody nėpa. Moskva: AIRO-XXI, 2009. 205 S., 9 Abb. = AIRO – Pervaja Monografija, 32. ISBN: 978-5-91022-120-2.

Ljubov’ Aleksandrovna Boeva ist Dozentin an der Moskauer Pädagogischen Universität und befasst sich seit 15 Jahren mit der Geschichte der frühen sowjetischen Geheim­dienste (VČK-GPU-OGPU). Im vorliegenden, nur in einer recht kleinen Auflage von 700 Exemplaren von der „Vereinigung der Erforscher der russischen Gesellschaft“ (AI­RO) in seiner 1993 begründeten Monographienreihe herausgegebenen Büchlein beschäf­tigt sich Boeva nach einer einleitenden Literaturübersicht auf der Grundlage archivali­scher und gedruckter Quellen sowie der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur mit der innenpolitischen Tätigkeit des sowjetischen Geheimdienstes in den zwanziger Jah­ren. Die Periode der „Neuen Ökonomischen Politik“ von 1921 bis 1927 hatte für die Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft, aber auch für die des sowjetischen Geheim­dienstes, ungemein große Bedeutung. Nach der fast grenzenlosen Willkür des Bürger­krieges und des „Kriegskommunismus“ kam es jetzt einerseits zu einer gewissen freizü­gigen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung inklusive einer gewissen Rechtssicher­heit durch die Kodifikation eines Strafprozessrechts und eines Strafgesetzbuches anstelle der vorher üblichen, sich häufig widersprechenden Anordnungen und Resolutionen. Selbst der sich vor Ort fast allmächtig fühlenden Geheimpolizei wurden jetzt einige (al­lerdings auf die Dauer wenig wirksame) Zügel angelegt. Jene vorgebliche Rückkehr zu „Recht und Ordnung“ war allerdings von neuen Ungesetzlichkeiten gekennzeichnet. So ordnete beispielsweise Lenin nach einer harschen Beschwerde von Volkskommissar Či­čerin über Tschekisten, die einen türkischen diplomatischen Kurier verhaftet und dessen diplomatische Post geöffnet hatten, anschließend an: „Die räudigen Tschekisten verhaf­ten und die Schuldigen nach Moskau bringen und erschießen“. (S. 77) Andererseits be­gann von diesem Zeitpunkt an die Einrichtung jenes flächendeckenden Netzes geheim­polizeilicher Überwachung über das ganze Land, welches für die Sowjetunion typisch werden sollte. Überall begann man, Erscheinungsformen „bourgeoiser Ideologie“ zu wittern und deshalb das Postulat der Kommunistischen Partei, das alleinige Monopol auf die Wahrheit zu haben, brutal durchzusetzen. Bereits im Dezember 1920 hatte das Zen­tralkomitee der Kommunistischen Partei festgelegt, dass Kultur eine Sache der Partei sei. Des Abweichlertums besonders verdächtig waren deshalb von da an neben den Sozialre­volutionären und Men’ševiki von da an vor allem die Angehörigen der Intelligenz, wobei man schon 1922 von der GPU nicht nur forderte, diese landesweit insgeheim zu über­wachen, sondern auch über jeden eine Akte zu führen. (S. 115) Besonders verdächtig waren für Lenin hierbei „Professoren und Schriftsteller“, weshalb er persönlich von der GPU forderte, den genannten Personenkreis speziell zu überwachen. Zur selben Zeit wurde durch die „kämpferische Gottlosenbewegung“ die einst einflussreiche russisch-or­thodoxe Geistlichkeit bekämpft und in Massenprozessen als potentieller innenpolitischer Machtfaktor schonungslos niedergekämpft. Zu Recht betont Boeva über die Zeit der NÖP: „In jenen Jahren entwickelte und festigte der Geheimdienst das System der tota­len politischen Kontrolle über alle Bevölkerungsgruppen des Landes.“

Ob die Epoche der „Neuen Ökonomischen Politik“ trotzdem eine Zeit der „Weichenstellung“ war, wie es Boeva an manchen Stellen ihrer Monographie andeutet (z.B. S. 169), wo  anstatt der geschilderten autoritären Kontrolle der Kommunistischen Partei über die weitere Entwicklung des Landes eventuell auch eine Politik der Demokratisierung in der Sowjetunion möglich gewesen wäre, möchte der Rezensent ausdrücklich anzweifeln. Ganz zweifellos konsolidierte sich in der Zeit von 1921 bis 1927 die Rolle des sowjetischen Geheimdienstes als ein unverzichtbares Machtmittel in der Hand der sowjetischen Partei- und Staatsführung, mochte der jeweilige Führer nun Lenin, Stalin, Chruščev oder Brežnev heißen.

Jürgen W. Schmidt, Berlin

Zitierweise: Jürgen W. Schmidt über: Ljubov’ A. Boeva: „Osobennaja kasta“. VČK-OGPU i ukreplenie kommunističes­kogo režima v gody nėpa. Moskva: AIRO-XXI, 2009. 205 S., 9 Abb. = AIRO – Pervaja Monografija, 32. ISBN: 978-5-91022-120-2., http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schmidt_Boeva_Osobennaja_kasta.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2013 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg and Jürgen W. Schmidt. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.