Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 3, S.  405-407

Orlando Figes Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Berlin Verlag Berlin 2008. ISBN: 978-3-8270-0745-2


Grenzen des großen Narrativs*

Vielleicht ist die Rückkehr des Menschen auf den Schauplatz der Geschichte das wichtigste Ereignis in der Russlandgeschichtsschreibung nach dem Ende der Sowjetunion. Durch so viele Prismen ist Russland im 20. Jahrhundert betrachtet und analysiert worden: des Herrschaftssystems, des Totalitarismus, der Modernisierungs­theorie, ‚von oben‛ und ‚von unten‛. Es gab darin aber vorwiegend soziale Gruppen, Klassen, Nomenklaturen, Organisationen und nur vereinzelt auch Individuen, sofern sie ein Zeugnis, ein Dokument hinterlassen hatten, dessen sich Historiker post mortem annehmen konnten. Irgendwie war die Bühne zwar immer von Menschenmassen – in Kriegen, Revolutionen, Demonstrationen, Kampagnen – bevölkert und doch zugleich irgendwie menschenleer. Die Akteure blieben immer merkwürdig anonym, wenn man von den wenigen Führungsfiguren absieht, die schon früh ihre faszinierten Biographen gefunden hatten. Von den vielen ganz unten und vor allem im gesellschaftlichen Mittelfeld wussten wir auch nach Jahrzehnten intensiver Geschichtsschreibung immer noch wenig. Das hat sich aus bekannten Gründen – Glasnost, Öffnung der Archive, Entstehung einer Öffentlichkeit – seit den achtziger Jahren geändert. Orlando Figes’ monumentales Werk markiert diese Rückkehr der Menschen auf den geschichtlichen Schauplatz wie kaum ein anderes – was nicht ohne lange Anlauf- und Vorbereitungszeit möglich war. Die Sache selbst, nämlich an die 500 individuelle Biographien und Familiengeschichten erschlossen, aufgezeichnet, analysiert zu haben, und das heißt: Menschen ihren Namen, ihr Gesicht, ihr Schicksal zurückgegeben zu haben, ist so imposant wie die Darstellungskraft, soviel Generationenerfahrung, soviel Unglück und Leiden narrativ gebändigt und somit zur Anschauung gebracht zu haben. Der Titel des Buches fasst genau, worum es dem Autor geht: um die Vergegenwärtigung und Darstellung einer Erfahrung der Angehörigen jener Generationen, die unter sowjetischen Verhältnissen aufgewachsen sind und ihr Leben gelebt haben. Es ist eine Geschichte der Formen und Verhaltensweisen von Menschen unter Bedingungen, die fast immer solche des Ausnahmezustandes waren. Figes ging es um Generationenerfahrung, und die ließ sich am besten in den Schicksalen und Erzählungen von Familien aufspüren. Es ging ihm auch um einen möglichst weiten Kreis von Erfahrungen, also nicht nur von Angehörigen der zur schriftlichen Über­lieferung prädestinierten Gruppe der Intelligenzia, sondern vor allem von Menschen aus dem bäuerlichen Milieu, aus dem sich die neue Gesellschaft rekrutierte. Es finden sich darin nicht nur die Erfahrungen der Hauptstädte, sondern auch des weiten Landes draußen. Es ist vor allem die Geschichte einer nicht abreißenden Kette von Unglücken, aber dazwischen gibt es immer wieder die Momente, die Licht, Hoffnung, Zuversicht in ein die Menschen überforderndes Leben bringen. Figes hat die strengen Maßstäbe einer schon hoch entwickelten Kultur der oral history angelegt. Und wenn er seinen Text doch aus ganz verschiedenen Genres zusammensetzt – Tagebüchern, Erinnerungen, Interviews –, dann weil sie zusammengenommen erst ein komplexes Bild der Wirklichkeit abgeben; Figes ist souverän und frei genug, mit diesen verschiedenen Quellenarten umgehen zu können. Der Reichtum dessen, was er aus dem Material ‚herausholt‛ ist eindrucksvoll.

Das Buch ist selbst das Resultat eines groß angelegten Forschungsprojektes, und Figes hat vor allem in der Danksagung klargemacht, dass ein solches Monumentalwerk sich auf die Arbeit vieler stützt, welche die Hunderte von Interviews geführt, aufwendige Reisen in die russische Provinz unternommen und die Gespräche, Stunde für Stunde, aufgezeichnet haben. So etwas lässt sich nicht im Alleingang machen, und das Resultat, das über Tausend Seiten starke Buch, könnte fast die andere Leistung, die ihm vorausgeht, unsichtbar machen: Aufbau und An­leitung eines hochmotivierten, hocheffizienten und in vieler Hinsicht beispielgebenden und Maßstäbe setzenden Forschungsteams, also eine schon forschungspraktisch grandiose dokumentarische Leistung. So etwas ist nur möglich mit einem starken Motiv, Beharrlichkeit und Professionalität. Figes war seit seiner Arbeit in Moskau in den achtziger Jahren von diesem Vorhaben ergriffen, und er hat es in einer einzigartigen Anstrengung zu Ende gebracht – wo konnte man bisher eine Generationengeschichte und die Genese eines Verhaltenstypus auf so breitem Fundament und in so großer Konkretheit und Eindringlichkeit finden! Hier kommen viele Dinge zusammen: eine beherzte Entscheidung, ‚aufs Ganze zu gehen‛, d.h. die Genese einer Verhaltensform über eine ganze Epoche hinweg ins Auge zu fassen; der Respekt vor den individuellen Lebensläufen, die alle ihre eigenen Daten, Physiognomien, ihre eigene Würde haben, und nicht nur abgeleitet sind aus einem bestimmten großen Kontext; das Interesse für die je konkreten Umstände und Schauplätze; das Gefühl für die systematische Bedeutung von Details, Fragmenten, Überbleibseln; die Unmittelbarkeit von Eindrücken und Erfahrungen; auch die zahlreichen Fotos – Porträts, Gruppenaufnahmen, Familienbilder – haben weit mehr als nur eine illustrative Bedeutung. Sie sind das Medium, vergessene und verschwundene Schicksale – ja, dieses Wort darf hier mit mehr Recht denn je verwandt werden – wieder sichtbar zu machen. Hier werden ja nicht nur Bilder gezeigt, sondern kulturelle Physiognomien vorgeführt. Bewegend sind Fotos wie das vom Metallbettchen oder die Gruppenaufnahme von der Schule als dem einzigen Beweisstück für das, was von einem ruinierten Leben geblieben ist. So treten neben die Polizeifotos noch Selbstbilder, die so wichtig sind wie die Tagebücher und Erinnerungen, denen der Historiker seine Stimme verleiht. Wenn Figes von Lebensmilieus spricht, dann fügt er auch die Grundrisse der Gemeinschaftswohnungen hinzu, in denen sich Wildfremde für Jahrzehnte arrangieren müssen. Figes sind erstaunliche Funde gelungen. Solche Nachlässe, Privatarchive, Fotos findet nur, wer ein Leben lang ‚ganz nah dran‛ ist, also vertraut war mit den Milieus und Menschen, von denen das Buch erzählt.

Wahrscheinlich lässt sich ein so gewaltiger Stoff erzählerisch nur bewältigen, wenn man sich an starken Zäsuren und Knoten der sowjetischen Geschichte orientiert, also: Revolution und Bürgerkrieg, NĖP, Großer Umschwung usf. Vieles spricht dafür, dass solche Periodisierungen und individuelle Schicksale en masse zusammenfallen. Dennoch ist ein solches Narrativ vergleichsweise konventionell angesichts der chaotischen Lebenswirklichkeit und des Ineinanders von Untergehen und Überleben, von Ausnahmezustand und Anpassung, von Überwäl­tigtwerden und Mitmachen. Die konventionelle Periodisierung stiftet eine Ordnung, die es im ‚wirklichen Leben‛ nicht gegeben hat. Die Reduktion von Komplexität ist der (wohl unvermeidliche) Preis, den der Autor und Historiker dafür zu entrichten hat. Es ist wohl immer noch ein Rest von Sehnsucht nach einem archimedischem Punkt, von dem aus sich das unübersichtliche Gelände überblicken lässt und der das Narrativ in Gang hält und zusammenhält. Eine zu große, wenn nicht gar initiative Rolle, um dem Ganzen eine Richtung zu geben, spielt nach wie vor, obwohl das eigentlich nicht nötig ist, die Doktrin, etwa das Programm von der Aufhebung der Trennung von Öffentlichem und Privatem, dem Politischwerden alles Persönlichen, der Strategie der Umschmiedung u.ä., wo es sich doch eher um eine Rhetorik handelt, um die vorgefundenen Verhältnisse zu rationalisieren. In einem Narrativ, das ohne die konventionellen Ordnungsbegriffe auskäme, würden sich auch die schulmäßigen Oppositionen auflösen, die zwischen Subjektivisten und Objektivisten, zwischen Funktionalisten und Intentionalisten, zwischen Geschichte der Institutionen und des Alltags usf. Es gibt Erzählformen, in denen das paradoxe Ineinander des Lebens sich angemessener darstellen lässt, etwa in einer Biographie oder in der Analyse einer geschichtlichen Konstellation. Beides ist mit einer Blickeinstellung, einer ‚Fokussierung‛ verbunden, die es erlaubt oder erzwingt, dem Realzusammenhang treu und auf der Spur zu bleiben. Figes aber hat eine Gesamtgeschichte im Auge, der er sowohl mit einem am Detail geschulten Auge wie mit einem die großen und komplexen Zusammenhänge erfassenden Verstand begegnet. Hier gibt es eine riskante Grenze: da wo eine individuelle Erfahrung mehr bringen, mehr tragen soll, als sie zu tragen in der Lage ist. Individuelle Erfahrungen oder sogar Biographien laufen dann Gefahr, Illustrationen für etwas zu werden, was man ‚im Allgemeinen‛ schon weiß; sie werden zu Belegen für Prozesse, Zäsuren, Systeme. So passt etwa die Passage zu dem berüchtigten Buch über den Belomor-Ostsee-Kanal zwar ‚ins Bild‛, aber sie ist im Kontext der Erzählung eigentlich nicht notwendig; so tauchen längere Ausführungen über das Konzept der dom-kommuna auf, obwohl sich dafür eigentlich nur die Avantgadisten im engeren Sinne interessierten, und es für die Entstehung der kommunalka unerheblich ist. Hier wäre etwas weniger besser gewesen, und eine strengere Ökonomie hätte der Sache gut getan. Zur Meisterung des geschichtlichen Narrativs gehört auch zu wissen, wo die Grenze des Erzählbaren verläuft. Man darf nicht alles in eine individuelle Geschichte, in einen ‚Fall‛ hineinpacken, wenn dieser eine solche Bürde nicht trägt. Insofern bleibt die dichte Beschreibung von wenigen ausgewählten Fällen, die ‚durcherzählt‛ werden, härter an der Sache als eine überaus reiche panoramatische Übersicht.

Die Frage ist, ob außer jenem Narrativ, für das sich Figes aus guten Gründen entschieden hat, noch andere möglich wären. Gewiss. Denkbar wäre eine Komposition von unterschiedlichen Ebenen und Fällen: die Geschichte einer kommunalka, die ja durchaus eine generationenübergreifende Erfahrung war, mit einem genau lokalisierbaren Schauplatz zudem (eine der Kost­barkeiten im Buch von Figes sind gerade die zahlreichen Grundrisse von Wohnungen); Ein­zelbiographien, die für das eine und das andere (Aufstieg und Untergang) und vielleicht für beides stehen; eine theoretisch inspirierte und zugleich empirisch gesättigte Studie über die Zerstörung von Umgangs- und Lebensformen in einer eigentümlichen „Diktatur der Intimität“ und die Genesis neuer, sowjetischer Umgangsformen. Das Spektrum der Register, mit dem sich eine Generationenerfahrung des Verstummens, der Selbstdisziplinierung und der Angst erfassen ließe, dürfte so unendlich sein wie diese Erfahrungen selbst. Orlando Figes hat einige dieser Register auf eindrucksvollste und erschütternde Weise zur Sprache gebracht.

Karl Schlögel, Frankfurt/Oder

Zitierweise: Karl Schlögel über: Orlando Figes Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Berlin Verlag Berlin 2008. ISBN: 978-3-8270-0745-2, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 3, S. 405-407: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schloegel_Figes_Fluesterer.html (Datum des Seitenbesuchs)

*Rezensiert nach der deutschen Ausgabe: Or­lando Figes Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Berlin Verlag Berlin 2008. 1036 S., Abb. ISBN: 978-3-8270-0745-2.