Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

 

Ausgabe: 59 (2011) H. 1

Verfasst von:Franziska Schedewie

 

Corinne Gaudin Ruling Peasants. Village and State in Late Imperial Russia. Northern Illinois University Press DeKalb, IL 2007. X, 271 S., 13 Tab. ISBN: 978-0-875-80370-8.

Seit der Bauernbefreiung 1861 mischte sich der zarische Staat in die traditionellen Angelegenheiten des Dorfes ein. Sein Scheitern 1917 erklärten viele Zeitgenossen wie spätere Historiker denn auch mit einer per se unzulässigen Modernisierung von außen, oder aber sie machten eine notorische Reformresistenz der russischen Bauern dafür verantwortlich. Beiden Positionen tritt Corinne Gaudin in ihrem Buch entgegen: Es waren nicht die Bauern, die den Wandel und ihre eigene Integration in Staat und Gesellschaft verhinderten. Ohne auf einer überkommenen Eigenständigkeit zu beharren, welche sie am Ende des Zarenreichs ohnehin verlieren sollten, zeigten sie sich interessiert und in der Lage, die neuen Institutionen der Verwaltung und Gerichtsbarkeit zu nutzen. Gaudins extensive Analyse von Verwaltungsakten aus zentralen wie lokalen Archiven belegt, dass Bauern von sich aus staatliche Instanzen um Intervention in ihre internen Angelegenheiten anriefen und deren Sprache für ihre eigenen Verwaltungsvorgänge übernahmen. Es war vielmehr der Staat selbst, der diese Entwicklung paradoxerweise bremste, indem er sie mit zunehmend dirigistischen Mitteln gleichzeitig voranzutreiben, zu lenken und einzudämmen versuchte. Aus Angst vor seiner eigenen Courage, ja aus Furcht vor einem möglichen Erfolg gelang es ihm nicht, mit den Bauern klar zu kommunizieren und die Konsequenzen seiner eigenen Reformen zu durchdenken. Schwankte aber der Staat fortwährend zwischen persönlichem und bürokratischem Prinzip, ließ er Gewohnheitsrecht neben geschriebenem Gesetz bestehen, ohne das Gewohnheitsrecht näher zu bestimmen, und vermittelte er den Bauern eine neue Vorstellung von ihrem Besitz und Eigentum, an die er sich selbst nicht verbindlich halten mochte, so konnte bei den Bauern nur der Eindruck von Unvorhersagbarkeit, Widersprüchlichkeit, Zufälligkeit staatlicher Entscheidungen und von mangelnder Rechtssicherheit entstehen, so dass sie sich dem Staat schließlich innerlich entzogen. Als es am Ende, im Ersten Weltkrieg, so dringend gebraucht wurde, war das bisher stabilisierende Element der Bauernschaft im Russischen Reich enttäuscht und weggebrochen.

Gaudin untermauert ihre These durch eine systematische Darstellung, die für den Zeitraum von 1889 (Beginn der sogenannten „Gegenreformen“) bis 1917 alle Ebenen der staatlichen Verwaltung der bäuerlichen Angelegenheiten erfasst: die 1889 installierten Landhauptleute in ihrer Auseinandersetzung mit den gewählten Gemeindebeamten (Kapitel 2), die volost’-Gerichte und ihre Berufungsinstanzen (Kapitel 3) und die Dorfversammlungen (Kapitel 4). Deutlich tritt überall die zentrale Bedeutung des Besitzes und der Verteilung von Boden im Kontext der dörflichen Sozialstrukturen hervor: Hinter jedem Streit vor dem volost’-Gericht konnte letztlich ein Konflikt um Land stehen. In der Hoffnung, über diese neuen Anlaufstellen doch noch Land zugesprochen zu bekommen, das ihnen die traditionelle Instanz, die Gemeinde, versagte, strengten besonders Frauen mit zunehmender Häufigkeit Klagen an. Gaudin zeigt, dass selbst die Einstellungen zu Umverteilung (peredel) und kollektivem Landbesitz nicht ideologisch und durch Herkommen, sondern oft durch gerade gegebene, zufällige Umstände wie die Situation eines Haushalts begründet waren. Das fünfte Kapitel ihres Buches, das die Stolypinschen Reformen behandelt, ist dementsprechend als eine „Fallstudie“ angelegt, in der alle bisherigen Teilergebnisse der Analyse zusammenlaufen und die bis dahin erfolgten Entwicklungen und Lernprozesse der Bauern gezeigt werden: Unter dem Druck eines Staates, dessen Reformpolitik laut Gaudin inkonsistent blieb und der selbst ungenügend vorbereitet war, hat letztlich nicht die Frage der Flurbereinigung und wirtschaftlichen Modernisierung das Dorf in Unruhe gebracht, sondern der alltägliche, bekannte Streit um Land und dessen Verteilung: Drohte doch die Umwandlung von Besitz in Eigentum Zustände und Zuteilungen auf Dauer zu zementieren, die bei der letzten traditionellen Umverteilung vielleicht zufällig oder als vorübergehend gedacht entstanden waren. Im Extremfall konnten Haushalte so regelrecht enteignet werden, die doch zuvor über mehrere Generationen Loskaufzahlungen für Land in der Gemeinde entrichtet hatten.

Zu den großen Leistungen von Gaudins Studie gehört daher nicht nur, dass sie die ganz alltägliche Interaktion zwischen Bauern und nicht-bäuerlichen Autoritäten über ein Vierteljahrhundert hin erforscht, sondern auch, dass sie sozioökonomischen Wandel auf dem Dorf thematisiert und verdeutlichen kann: Sie zeigt, dass es unter den gegebenen Bedingungen in der ausgehenden Zarenzeit immer komplizierter wurde, Land umzuverteilen, als mehr und mehr Wanderarbeiter, Rückkehrer aus Städten und aus Sibirien, heimgekehrte Soldaten und ihre Frauen und Witwen Anspruch auf ihre Berücksichtigung erhoben. Gaudins Arbeit – dies sei ganz am Rande bemerkt – hätte eventuell durch mehr direkte Zitate aus ihren reichen Quellen in der Darstellung noch etwas anschaulicher und unmittelbar nachvollziehbarer werden können. Insgesamt ist das Buch ein Gewinn für das Verständnis der russischen vorrevolutionären Geschichte.

Franziska Schedewie, Heidelberg

Zitierweise: Franziska Schedewie über: Corinne Gaudin: Ruling Peasants. Village and State in Late Imperial Russia. Northern Illinois University Press DeKalb, IL 2007. X, ISBN: 978-0-875-80370-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schedewie_Gaudin_Ruling_Peasants.html (Datum des Seitenbesuchs)

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