Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012), 1, S. 133-135

Verfasst von: Ralph Schattkowsky

 

Europa im Ostblock. Vorstellungen und Diskurse (1945–1991). Europe in the East­ern Bloc. Imaginations and Discourses (1945–1991). Hrsg. von Christian Dom­nitz, José M. Faraldo und Paulina Gulińska-Jurgiel. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2008. 407 S. = Zeithistorische Studien, 44. ISBN: 978-3-412-20029-9.

Der Band ist ein Produkt des Forschungsprojektes „Europa im Ostblock. Vorstellungswelten und Kommunikationsräume im Wandel“, das am Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung angesiedelt war. Es ist repräsentativ für eine Forschungslinie, die sich vor allem für die Zeit nach dem Zusammenbruch des Ostblocks mit osteuropäischen Vorstellungen über die Gestaltung eines europäischen Zusammenschlusses und mit der Positionierung einzelner Nationalstaaten in einer Form der Gemeinsamkeit beschäftigt und bisher stark auf Polen fokussiert war. Der Wert einer solchen Perspektive ergibt sich nicht nur aus den Ergebnissen der europäischen Vereinigung, sondern besteht auch in der notwendigen und eigentlich überfälligen Einbeziehung jenes Teils Europas, der im europäischen Einigungsprozess nach dem Zweiten Weltkrieg mit großer Selbstverständlichkeit ausgeschlossen war, indem vom europäischen Einigungsprozesse gesprochen wurde und der westeuropäische gemeint war. Darauf Bezug nehmend weist José M. Faraldo in der Einleitung auf die Normalität sehr unterschiedlicher Auffassungen über ein Zusammenwachsen der europäischen Länder hin und auf den wichtigen Beitrag, den Osteuropa dazu leistet. Er wendet sich entschieden gegen verbreitete Auffassungen, diesem „anderen Europa“ eine „Imagination Europas“, deren Ziel eine produktive Vereinheitlichung des Kontinents war, abzusprechen, und verweist damit gleichzeitig auf ein wesentliches Ziel des Projektes, nämlich den Europäern aus dem Osten eine eigene Stimme zu geben und damit dem Verständnis Europas als „Zivilisation“ zu entsprechen.

Der Zugang zum Thema wird recht breit gewählt, und in einem einführenden Kapitel beschäftigen sich vier Beiträge mit der Kategorie des Ostens bzw. mit Osteuropa aus historiographisch-kulturgeschichtlicher Perspektive. Sie beschreiben diese europäische Großregion im Spannungsfeld zwischen traditionellem „Borderland of Europe“ (Jan Kieniewicz) über ihre nationalen Entwicklungen (Hagen Schulze-Vorberg) bis hin zu einer Neudefinition von „Osteuropa“ im Zuge gesellschaftlicher Transformationsprozesse (Wolfgang Schmale). Christian Domnitz versucht sich an einer Typologie von Europanarrationen im Staatssozialismus. Alle diese Beiträge wenden sich essentiell gegen eine Homogenität des Ostblocks und setzen sich mit der historischen und überkommenen Vorstellung von der Marginalität des Ostens auseinander, in der sie vor allem ein Unterpfand der „Ostblock-Perspektive“ des Kalten Krieges sehen.

Die bevorzugten Untersuchungsebenen der weiteren Artikel des Bandes sind die Europavorstellungen einzelner Länder, literarisch-intellektueller und ethnischer Gruppen (Balkan-Muslime) und des Exils. Diese Ebenen vermischen sich mit der Verfolgung einzelner Zeitstränge von besonderer Prägekraft, wie des Stalinismus oder der Optionen am Ende des Krieges bis zum Ausbruch des Kalten Krieges. Während die unter den Gliederungspunkten Zugänge/Approaches und Stalinis­mus / Sta­linismen zu findenden Beiträge in deutscher und englischer Sprache noch mühelos zuzuordnen sind, geht diese Eindeutigkeit in den folgenden Abschnitten Bilder / Images und Dissens / Dissent verloren. Hier haben wir es mit Texten zu tun, die verschiedene Aspekte der Untersuchungsebenen aufnehmen, bzw. sie beispielhaft erläutern. Jana Wüstenhagen schreibt über die Europabilder in der DDR, Jordanka Telbizova-Sack und Dennis Diercks widmen sich in ihren Beiträgen der Frage der Muslime und Europa, Dragoş Petresku und Christina Petresku behandeln die Europafrage im kommunistischen Rumänien, Joanna Bar und Friederike Kind-Kovács schreiben über die Europafrage in Presse und Literatur. Die Eindeutigkeit der Gliederung wird im letzten Abschnitt Exil / Exiles wiederhergestellt. Die hier abgedruckten Beiträge vermögen besonders eindrucksvoll den Grundgedanken des Projektes einer expliziten Meinungsbildung und Meinungsvielfalt zu „Europa“ aus östlicher Perspektive darzustellen. Nicht weniger wird hier auch die Rolle der Exilschriftsteller und Exilpolitiker als Brücke oder Klammer deutlich, die es vermochten, eine gewisse Präsenz Osteuropas in den dominanten westeuropäischen Europavorstellungen zu realisieren.

Der vorgelegte Band ist ein ganz wichtiger Beitrag zur weiteren Auflösung des nach wie vor statischen Bildes des Ostblocks als monolithisch festgefügtes Gebilde und zur Erklärung seiner inneren Funktionalität. Was etwas zu kurz kommt, ist das eigene Europakonzept des Ostblocks als Gegenentwurf zum westeuropäischen Einigungsprozess und die damit verbundene indirekte Akzeptierung eines europäischen Projektes. Das klingt zwar bei den Typologien und im Abschnitt Stalinismus an, wird aber vor allem in seiner institutionellen Umsetzung nicht konsequent genug verfolgt. Damit bleibt die so wichtige Frage des Abgleichs nationaler und transnationaler Konzepte und das aufschlussreiche Problem der inneren Kommunikation im Osten weitestgehend ausgespart, die es erlaubt hätten, nach der Gültigkeit und Akzeptanz der westlichen Chiffre von Fortschritt und Erfolg zu fragen.

Der Band verfügt über ein Autorenverzeichnis, eine Literaturauswahl und ein Personenregister.

Ralph Schattkowsky, Rostock/Toruń

Zitierweise: Ralph Schattkowsky über: Europa im Ostblock. Vorstellungen und Diskurse (1945–1991). Europe in the Eastern Bloc. Imaginations and Discourses (1945–1991). Hrsg. von Christian Domnitz, José M. Faraldo und Paulina Gulińska-Jurgiel. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2008. = Zeithistorische Studien, 44. ISBN: 978-3-412-20029-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schattkowsky_Domnitz_Europa_im_Ostblock.html (Datum des Seitenbesuchs)

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