Katrin Boeckh, Ekkehard Völkl Ukraine. Von der Roten zur Orangenen Revolution. Verlag Friedrich Pustet Regensburg 2007. 295 S., 27 Abb., Ktn. = Ost- und Südosteuropa. Geschichte der Länder und Völker.

Mit der 2007 veröffentlichten Darstellung der neueren Geschichte der Ukraine, nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 als Nationalstaat proklamiert, wird eine längst fühlbare Lücke in der Darstellung der neueren und neuesten Geschichte ost- und südosteuropäischer Völker und ihrer Staaten geschlossen. Bis zum Ende der Sowjetunion war die Ukraine wie auch Weißrussland und die drei baltischen Länder Litauen, Lettland und Estland so gut wie ganz aus dem Bewusstsein der deutschen Intelligenz verschwunden. Dass es dort nicht nur eigenständige Sprachen, Literaturen und Kulturen mit langen Traditionen gibt, kann erst jetzt anhand der Geschichte aller dieser Völker aufgearbeitet werden. Für Verwirrung hat früher auch die Bezeichnung „Kleinrussen“ bzw. „Kleinrussland“ für die Ukrainer bzw. die Ukraine gesorgt. Das Ukrainische, eine der drei ostslawischen Sprachen, wurde somit immer wieder auch als Dialekt des Großrussischen betrachtet. Für die Ukraine kommt noch hinzu, dass sie ein Land ist, das wie kaum ein anderes zwischen Ost und West steht, dazu auch nach Russland und vor Frankreich die größte Landfläche auf dem europäischen Kontinent aufweist. Es erscheint daher durchaus berechtigt, dass dieser Darstellung der Geschichte der Ukraine ein von Ines Häusler verfasstes Kapitel „Naturraum und wirtschaftliche Grundstrukturen“ vorangestellt wurde.

Im Wechsel der beiden Hauptautoren Katrin Boeckh und Ekkehard Völkl wird im ersten großen Abschnitt die Geschichte der Ukraine bis zur nationalen Bewegung im 19. Jahrhundert abgehandelt. Auf eine kurze Darstellung der Epoche der Kiever Rus’ vom 10. bis zum 13. Jahrhundert folgt ein Überblick über die Geschichte des Teilfürstentums Galizien-Wol­hy­nien im 13. Jahrhundert sowie der polnisch-li­tau­ischen Herrschaft in der Zeit vom 14. bis zum 18. Jahrhundert. Der erste zentrale Abschnitt der neueren Geschichte behandelt die ukrainische Staatsproklamation vom Januar 1918 und die darauffolgenden Jahre der „Anarchie“ bis 1921. Es folgt die Darstellung der Zwischen­kriegszeit mit der Gründung der Sowjetukraine und deren völliger Eingliederung in das Staatsgefüge der Sowjetunion, verbunden mit „Bildungs­offensive“, Sozialismus, Zwangs­kollek­ti­vie­rung und der daraus resultierenden Hungerkatastrophe der Jahre 1932 und 1933, dem Ausbau der Schwerindustrie, den „Säu­be­run­gen“ der Stalinzeit in Gestalt des Massenterrors. Ein düsteres Kapitel ist der Zweite Weltkrieg mit dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion, als es zur Bildung des „Reichskommissa­riats Ukra­i­ne“ unter dem ostpreußischen nationalsozia­lis­ti­schen Gauleiter Erich Koch kam, eine Herr­schaft, die von Besatzungsterror, wirtschaft­li­cher Ausbeutung und Kunstraub, Zwangs­arbeit, Ver­schleppung und Massenmord der jüdischen Bevölkerung der Ukraine geprägt war.

Alle diese Abschnitte waren noch von dem verstorbenen Regensburger Osteuropahistoriker Ekkehard Völkl (1940–2004) verfasst worden. Katrin Boeckh bearbeitete die Geschichte der Uk­raine nach dem Zweiten Weltkrieg, die kurze Epoche des Postsozialismus von 1989 bis 2004 und der Präsidentschaft Juščenkos in den beiden Jahren 2005 und 2006 sowie der sich daraus ergebenden neuen Außenpolitik mit dem Ziel einer Annäherung an die westlichen Länder.

Etwas zu kurz kommt in dieser Darstellung der neueren ukrainischen Geschichte die Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte. So wurde die 1588 in Wilna gegründete Universität nach den polnischen Unruhen der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts 1833 nach Kiew verlegt, wo sie 1920 in einzelne Institute aufgegliedert wurde. Auch die 1873 in Lemberg begründete „Wis­senschaftliche Ševčenko-Gesellschaft“, die Vorläuferin der späteren Ukrainischen Akademie der Wissenschaften, hätte sicher eine etwas ausführlichere Behandlung erfahren sollen. Auf S. 151 wird die 1921 in Wien gegründete „Ukrainische Freie Universität“ nur ganz kurz erwähnt. Sie wurde bereits 1921 nach Prag verlegt und nahm 1945 in München ihren Vorlesungsbetrieb wieder auf, obwohl erst 1950 die staatliche Anerkennung erreicht werden konnte. Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang auch das 1926 in Berlin gegründete „Ukrainische Wissenschaftliche Institut“ unter der Leitung von D. Dorošenko, mit dem man sich das Ziel gesetzt hatte, die Ukraine in Kontakt mit der deutschen Wissenschaft zu erforschen. Das In­stitut geriet nach 1933 mehr und mehr in das Fahrwasser nationalsozialistischer Ideologie und konnte verständlicherweise nach 1945 seine Aktivitäten nicht mehr fortsetzen. Vom deutschen In­teresse an der Ukraine zeugt u.a. auch die deutsche Ausgabe des ersten Bandes der neunbändigen Geschichte der Ukraine von Myhailo Hruschewsky (1866–1934), Historiker und ukrai­nischer Staatspräsident, ebenso auch die in deutscher Sprache veröffentlichte Darstellung von Ivan Mirtschuks „Geschichte der ukrainischen Kultur“ im Jahre 1947 in München. Zu er­wähnen wäre in einer solchen Darstellung auch die große Rolle, die das ukrainische Exil in Kanada in wissenschaftlicher Hinsicht spielt. In Australien hat die Monash-University in Melbourne eine effektive Ukrainistik aufgebaut, die durchaus der in Winnipeg/Kanada vergleichbar ist. Damit hatte sich ein wesentlicher Teil des uk­ra­inischen kulturellen Lebens nach Mittel- und Westeuropa, aber auch nach Nordamerika und nach Australien verlagert, eine Situation, durch­aus vergleichbar mit der Polens im 19. Jahrhundert als Folge der polnischen Teilungen am Ende des 18. Jahrhunderts. Wie Polen ist es auch der Ukraine gelungen, ein großes kul­turelles Erbe über die Zaren- und Sowjetzeit, ebenso aber auch über die vergleichsweise kurze deutsche Besatzungszeit hinwegzuretten.

In der vorliegenden Darstellung der neueren und neuesten Geschichte der Ukraine wurde ein mit seinem Faktenreichtum für den Leser oft schwer überschaubares, aber umfangreiches historisches Material verarbeitet. Schmerzlich vermisst werden jedoch die traditionellen Fußnoten, so z.B. auf S. 47, wo der Regensburger Sla­wist Erwin Wedel mit seiner Bezeichnung von Odessa als „Wiege und Schauplatz der südrussischen Literatur“ zitiert wird, ohne dass man in Erfahrung bringen kann, wie und in welchem Zusammenhang dieses Zitat zu finden ist. Auf S. 163 dürfte ein Fehler bei der Bildunterschrift vorliegen. Dort handelt es sich nicht um das „Michaelskloster“, sondern um die „Andreaskirche“, ein Kiewer Architekturdenkmal des 18. Jahrhunderts. Es bleibt zu wünschen, dass die­ser verdienstvollen Darstellung der Ukraine bald auch eine Darstellung Weißrusslands folgen wird.

Helmut W. Schaller, Marburg / Lahn

Zitierweise: Helmut W. Schaller über: Katrin Boeckh, Ekkehard Völkl Ukraine. Von der Roten zur Orangenen Revolution. Verlag Friedrich Pustet Regensburg 2007. 295 S., 27 Abb., Ktn. = Ost- und Südosteuropa. Geschichte der Länder und Völker. ISBN: 978-3-7917-2050-0, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schaller_Boeckh_Voelkl_Ukraine.html (Datum des Seitenbesuchs)