Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012) H. 2, S. 277-278

Verfasst von: Stefan Rohdewald

 

Citizenship and Identity in a Multinational Commonwealth. Poland-Lithuania in Context, 1550–1772. Ed. by Karin Friedrich and Barbara M. Pendzich. Leiden, Boston, MA: Brill, 2009. XVII, 307 S., 4 Ktn., 5 Abb., Tab. = Studies in Central European Histories, 46. ISBN: 978-90-04-16983-8.

Die eindrückliche Kollektivmonographie setzt sich zum Ziel, Praktiken von (Staats-)Bürgerschaft und Identität im polnisch-litauischen Vielvölkerreich der frühen Neuzeit zu untersuchen. Ständestaatliche Parlamente und Ständevertretungen interessieren hier nicht als teleologische Vorläufer moderner Demokratie, aber als Konsenssysteme, die modi vivendi zwischen sehr unterschiedlichen Gruppen mit Identitäten konfessionellen, regionalen und nationalen Hintergrunds aushandelten. Während im westlichen Europa ständestaatliche Institutionen nach dem Spätmittelalter durch mächtige Dynastien zurückgedrängt wurden, festigten sich in der Frühneuzeit vornehmlich in Polen-Litauen parlamentarische Handlungspraktiken weiter und wurden vorherrschend. Vor dem Hintergrund etwa der Transformationsforschung zu den Vorgängen nach 1989 ist die These wichtig, dass die „frühneuzeitliche polnische politische Kultur beweist, dass die Schaffung der Zivilgesellschaft und ‚rule of law‘ als Voraussetzung für die Blüte von Freiheit keine Ersterfindungen des Liberalismus des 19. Jh. waren“ (S. XV).

Die Beiträge des Bandes rücken entsprechend den Spielraum des Bürgers und seine Rollen gegenüber Formen politischer Macht, einschließlich der königlichen, ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Felicia Roşu argumentiert, die Beschlussfassung im Sejm sei durch das oft geschmähte liberum veto geradezu gefördert worden: Das Wissen um die einfache Verhinderung eines Gesetzes zwang die unterschiedlichen Akteure wiederholt zu Kompromissen im Interesse des Allgemeinwohls, etwa angesichts der Bedrohung durch Moskau. Karin Friedrich zeigt am Beispiel der Interaktion mit den Gesandten des Königreichs Preußen am Reichstag der Union in Lublin 1569, dass nicht einfach von vorgefassten Beschlüssen der Landtage auszugehen ist: Erst im Vorgang der Verhandlungen in Lublin (re-)produzierten sich politische kulturelle Praktiken und entstanden neue Verfahren sowie Entscheide als Kompromisse zwischen dem Zentrum und den Regionen. Artūras Vasiliauskas richtet das Augenmerk auf den zahlreichen Kleinadel des Großfürstentums, der bisher teilweise im Schatten der Forschung über die Magnaten stand. Er weist nach, dass selbst ein Teil des ärmsten Adels an den regionalen Landtagen regelmäßig teilnahm, die damit von einem repräsentativen Querschnitt der regionalen Adelsschichten besucht wurden. Die häufig angenommene weniger ausgeprägte landespolitische Mobilisierung des Kleinadels des Großfürstentums einschließlich seiner nordöstlichen Regionen gegenüber dem der Krone Polen wird mit diesem Befund relativiert. Barbara Pendzich zeichnet nach, wie sich die orthodoxen und jüdischen Stadtbewohner mehrerer Städte im Osten des Vielvölkerreichs zur Mitte des 17. Jh. geschickt gegen die moskovitischen Invasoren gemeinsam zur Wehr zu setzten wussten und sich zuweilen auch für ihre katholischen Nachbarn einsetzten. Gershon David Hundert widmet seinen Beitrag der Herausgestaltung neuer Formen von Identität im Commonwealth im 18. Jh. und damit dem Übergang von einem politisch und ständisch orientierten zu einem ethnisch und linguistisch ausgerichteten Konzept. Die katholische Kirche erscheint in diesem Vorgang als ein zentraler Akteur, der die Juden aus der entstehenden polnischen nationalen Identität mit Nachdruck ausschloss: Die neue Aushandlung kultureller Differenz dürfte, so der Autor, zur wechselseitigen Entfremdung geführt haben. Barbara Skinner stellt die Teilungen Polen-Litauens Ende des 18. Jh. in einen direkten Zusammenhang mit den Kosakenaufständen der Mitte des 17. Jh.: Die Verbindung konfessioneller und politischer Allianzen mit Moskau verhärtete sich bereits damals, so dass es im 18. Jh. leicht war, sie weiter zu festigen. Die Aufstände des 17. Jh. führten zu einer langfristigen Abkehr vom früheren Pfad der praktischen Konfessionsfreiheit.

Joanna Kostyło legt dar, welche Rolle der Verehrung Venedigs als republikanisches Ideal in Polen-Litauen im 16. Jh. zukam: Das Beispiel des Angebots polnisch-litauischer Adliger, den Senat Venedigs gegen den Papst zu unterstützen, zeigt auf, dass auch in diesem Fall eher von einer Verflechtung als von einem einseitigen Transfer politischer Kultur zu sprechen ist. Ähnliches gilt für Vorstellungen von Bürgerschaft und Landtagspolitik: James B. Collins bettet im Vergleich Frankreichs mit Polen-Litauen die polnisch-litauische Entwicklung der Vorstellung des freien Bürgers in den europäischen Rahmen ein. Er legt dar, weshalb die Einberufungen der Generalstände und anderer korporativer Ständegremien durch Heinrich III. bisher nicht auf dessen polnisch-litauische Erfahrungen zurückgeführt worden sind: Französische Historiker müssten sich dann eingestehen, dass Frankreich von Polen-Litauen gelernt hätte. Allan Macinnes geht einem vergleichbaren Fall nach, wenn er vor dem Hintergrund der bis zu 30.000 nach Polen-Litauen emigrierten Schotten im Zusammenhang mit der Aushandlung der englisch-schottischen Union zu Beginn des 18. Jh. und später eine gelegentliche implizite schottische Übernahme von Widerstandsformen nach dem Vorbild des rokosz postuliert. Krzysztof Łazarski schließt den Band mit einem Exkurs in die politische Theorie Lord Actons ab. Der polnisch-litauische Vielvölkerstaat diente diesem neben den Niederlanden, Venedig und England als Beispiel für Gemeinwesen, die nicht dem Absolutismus zum Opfer fielen. Allerdings verhinderten nach dem 17. Jh. die verfestigten Privilegien sozialen Wandel, so dass der libertäre Vorsprung Polen-Litauens gegenüber seinen Nachbarn ohne langfristige Früchte blieb.

Auch dieser letzte Beitrag unterstreicht damit eine europäische Perspektive der Verflechtungsgeschichte, in der der Stellenwert Polen-Litauens einschließlich aller seiner Regionen wie der Gebiete der heutigen Staaten Ukraine, Belarus’ und Litauen in der politischen Theorie und Praxis des frühneuzeitlichen Europa und der Forschung der Gegenwart zu rekonstruieren ist. Der verdienstvolle Sammelband exemplifiziert zahlreiche neue Perspektiven auf politische Praktiken des polnisch-litauischen Adels im europäischen Verflechtungszusammenhang und unterminiert damit Reste einer eher in der westeuropäischen Historie als in der Osteuropaforschung übriggebliebenen Vorstellung ostmitteleuropäischer politischer „Rückständigkeit“ im 16. und 17. Jh. Sowohl dieses Thema der politischen kulturellen Praktiken vor ihrem europäischen Hintergrund als auch der in den Beiträgen entgegen der Einleitung vergleichsweise im Hintergrund stehende Aspekt der (politischen) Identitäten werden damit als Desiderat weiterer Forschung ersichtlich.

Stefan Rohdewald, Passau

Zitierweise: Stefan Rohdewald über: Citizenship and Identity in a Multinational Commonwealth. Poland-Lithuania in Context, 1550–1772. Ed. by Karin Friedrich and Barbara M. Pendzich. Leiden, Boston, MA: Brill Academic Publishers, 2009. XVII. = Studies in Central European Histories, 46. ISBN: 978-90-04-16983-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Rohdewald_Friedrich_Citizenship_and_identity.html (Datum des Seitenbesuchs)

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