Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 3

Verfasst von: Andreas Renner

 

Manchurian Railways and the Opening of China. An International History. Edited by Bruce A. Elleman and Stephen Kotkin. Armonk, NY, London: Sharpe, 2009. 256 S., Ktn. ISBN: 978-0-7656-2514-4.

Mandschurische Eisenbahnen mögen in derselben Ferne liegen wie böhmische Dörfer – Historikern des russischen Imperialismus sind sie ein vertrautes Thema. Schließlich entstanden die ersten Bahnlinien im chinesischen Nordosten als Teilstrecken der transsibirischen Eisenbahn – als brutal-pragmatische Abkürzung für den Anschluss der Hafenstadt Vladivostok bzw. als Anbindung des südmandschurischen Stützpunktes Port Arthur, den Russland 1898 annektiert hatte. Beide mandschurischen Bahnstrecken wurden nicht nur von russländischen Gesellschaften gegen den Widerstand der Regierung in Peking gebaut, sie besaßen innerhalb Chinas auch einen extraterritorialen Status. Allerdings verlor das Zarenreich bereits 1905 mit dem Russisch-Japanischen Krieg auch Port Arthur und die Kontrolle über die südmandschurische Bahn; dreißig Jahre später verkaufte die Sowjetunion die verbliebenen Hoheitsrechte über die nordmandschurische, die sogenannte Ostchinesische Bahn, an die Mandschurei, die inzwischen ein japanischer Satellitenstaat geworden war. Nachdem die Sowjet­union durch den Zweiten Weltkrieg im Nordosten Chinas wieder eine Machtstellung, vergleichbar mit der des Zarenreiches von 1900, erreicht hatte, dauerte es bis 1952, bis sie China die Nutzungsrechte über die mandschurischen Bahnen zugestand. Damit endete zwar in der Eisenbahngeschichte symbolisch die Epoche der sogenannten Ungleichen Verträge Chinas mit ebenso übermächtigen wie eigennützigen Partnerländern. Als neuer Verbündeter der Sowjetunion hatte Mao Zedong zuvor jedoch alle Ansprüche auf die äußere Mongolei aufgeben müssen.

Am Beispiel der mandschurischen Eisenbahn lässt sich also eine Geschichte der russisch-chinesisch-japanischen Beziehungen bzw. eines russisch-japanischen geostrategischen Konflikts in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schreiben – und diese internationale Geschichte bildet auch den Rahmen des Sammelbands. Er ist der vierte in einer von zwei Osteuropa-Historikern begründeten Editionsreihe zur nord­ost­asiatischen Geschichte; Stephen Kotkin und David Wolff lenken mit dieser Reihe den Blick auf einen eher selten untersuchten Bereich der russischen Geschichte. Inzwischen ist anstelle von Wolff mit Bruce Elleman ein Politik- und Militärhistoriker an dem Projekt beteiligt. Der aktuelle Band gliedert sich in zwei chronologische Blöcke: Vier Aufsätze befassen sich unter der Rubrik „Eisenbahn-Imperialismen“ mit den mandschurischen Eisenbahnen als Mittel und Ziel russischer, japanischer und sowjetischer Machtpolitik bis zum Sowjetisch-Chinesischen Krieg von 1929. Unter der Überschrift „Eisenbahn-Nationalismen“ analysieren vier weitere Aufsätze die Rolle der Eisenbahn – darunter auch von Linien unter chinesischer Kontrolle – im Kontext der Modernisierung des Landes sowie in den Jahren des Bürgerkriegs. Dem japanischen Protektorat über die Mandschurei ist für die Zeit nach dem Erwerb der Ostchinesischen Bahn kein eigener Aufsatz gewidmet; Y. Tak Matsusaka, Historiker am Wellesley College, komprimiert diese Phase wirtschaftlicher Umgestaltung in seinem Beitrag zur südmandschurischen Eisenbahn auf nur zwei Seiten. Die thematischen Schwerpunkte der acht Aufsätze liegen klar auf strategischen Konzepten und den diplomatie- und wirtschaftsgeschichtlichen Anstrengungen zu ihrer Umsetzung. Auch die Geschichte konkreter Eisenbahnprojekte geht nur an wenigen Stellen über die politisch-administrativen, technischen und militärischen Details hinaus – etwa in dem Aufsatz von Chang Jui-te, Professor in Taipei, der sich in seiner Untersuchung des Technologietransfers auch mit der Professionalisierung der chinesischen Ingenieure befasst. Elisabeth Köll, Wirtschaftshistorikerin an der Harvard-Universität, geht in ihrem Kapitel über eine chinesische Eisenbahngesellschaft im südwestmandschurischen Grenzgebiet auf das Protestpotential chinesischer Eisenbahnarbeiter ein. Hier zeigt sich, dass die anfangs tatsächlich von vielen Chinesen abgelehnte Eisenbahn längst mehr war als ein verhasstes Symbol ausländischer Bevormundung. Ihr Bau spielte nicht nur eine militärische Rolle in den Kämpfen um die Vorherrschaft im Land, sie trug auch zum sozialen Wandel und vor allem zur infrastrukturellen Erschließung und Besiedelung einer wichtigen Wirtschaftsregion bei, aus der zeitweilig über sechzig Prozent der Welternte an Sojabohnen stammte.

Festzuhalten ist: Die allesamt aus größeren Forschungsprojekten hervorgegangenen Aufsätze ordnen Detailstudien in große politische und ökonomische Entwicklungslinien ein. Auch wenn sie umfangreiche bibliographische Hinweise für eine weiterführende Lektüre geben, wenden sich die Autoren dennoch stärker an die Spezialisten. Eine Geschichte der mandschurischen Eisenbahn wollen sie nicht schreiben. So viel man daher über ehrgeizige Pläne und wirtschaftliche Kennzahlen erfährt – so wenig über Passagiere und Eisenbahnreisen.

Andreas Renner, Tübingen

Zitierweise: Andreas Renner über: Manchurian Railways and the Opening of China. An International History. Edited by Bruce A. Elleman and Stephen Kotkin. M.E. Sharpe Armonk, NY, London 2009. ISBN: 978-0-7656-2514-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Renner_Manchurian_Railways.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2011 by Osteuropa-Institut Regensburg and Andreas Renner. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@osteuropa-institut.de