Ol’ga I. Togoeva „Istinnaja pravda“. Jazyki srednevekovogo pravosudija [„Die reine Wahrheit“. Die Sprachen der mittelalterlichen Justiz]. Izdat. Nauka Moskau 2006. 333 S., Abb.

Trotz der Ausrichtung auf das französische spätmittelalterliche Urkundenwesen dürfte Ol’ga Togoevas Untersuchung auch über das eigentliche Fachgebiet hinaus ihre Leserschaft finden. Denn die Rekonstruktion der Wahrnehmung rechtlicher Kategorien in der Gesellschaft wird hier als ein Kommunikationsprozess aufgefasst, in den der repressive Apparat und einzelne Bürger involviert waren; diese sahen sich somit gezwungen, ihre jeweiligen Vorstellungen zu artikulieren. Die aufsehenerregenden Fälle wie die Verurteilung von Jeanne d’Arc oder Gilles de Rais, den man des öfteren als Paten für die Gestalt des märchenhaften Blaubarts betrachtet, werden mit einigen herkömmlichen Gerichtsprozessen in einem konzeptuellen Rahmen besprochen, bei dem die Verfasserin die Notwendigkeit einer „fragmentorientierten Reflexion“ unterstreicht, welche individuelle weltanschauliche Vorstellungen aus dem normierten Bereich des Rechts hervortreten lässt.

Als gewinnbringend erweist sich ferner die Kombination der Forschungsergebnisse der modernen Mediävistik mit der Herangehensweise der russischen „semantischen“ und strukturalen Schule in der Ethnologie und Folklore (Vladimir Propp und die in der Sowjetunion zeitweilig verfemte Ol’ga Frej­denberg). So liefert z.B. Propps Analyse der Erzählstoffe im Zaubermärchen (bereits 1928 entworfen) der Verfasserin einen verlässlichen Faden, um aufzudecken, wie die Prozesse gegen Zauberei durch das traditionelle Erzählgut beeinflusst worden sind. Ähnlich erklärt sich die Kontamination von Motiven (unterstellte Tötung von Kindern bzw. von Ehefrauen), die in der bretonischen Überlieferung vorhanden waren, in Bezug auf die Formulierung der Verurteilung des Gilles de Rais. Die besondere Aufmerksamkeit der Verfasserin gilt dem Bereich der rituellen Gestik: Gezeigt wird unter anderem, wie durch die Festlegung der Gerichtsordnung die symbolischen Vorstellungen von Todesnähe, Verurteilung und Übergang ins Jenseits ihren für das Sozium eindeutigen Ausdruck erhalten. Gerade die Heranziehung des mentalitätsgeschichtlichen Materials in dieser präzisen, methodisch anregenden Untersuchung könnte Impulse für typologische Vergleiche mit der ostslavischen Tradition geben.

Fedor B. Poljakov, Wien

Zitierweise: Fedor B. Poljakov über: Ol’ga I. Togoeva: „Istinnaja pravda“. Jazyki srednevekovogo pravosudija [„Die reine Wahrheit“. Die Sprachen der mittelalterlichen Justiz]. Izdat. Nauka Moskau 2006. ISBN: 5-02-010360-8, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 3, S. 467: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Poljakov_Togoeva_Istinnaja pravda.html (Datum des Seitenbesuchs)