Tara Zahra Kidnapped Souls. National Indifference and the Battle for Children in the Bohemian Lands 1900–1948. Cornell University Press Ithaca and London 2008. XVII, 279 S., 5 Abb., 2 Ktn. ISBN: 978-0-8014-4628-3.

Nationalismus ist ein Thema, das besonders in Mittel- und Osteuropa immer wieder auf unterschiedliche Art und Weise seinen Ausdruck findet und das Interesse der Historiker von neuem weckt. Die im letzten Jahr bei Cornell University Press erschienene Arbeit von Tara Zahra behandelt den Nationalismus aus einer neuen Perspektive. Denn die Autorin untersucht dieses Phänomen am Beispiel der Kinder, um deren Identität sowohl die tschechischen als auch die deutschen Nationalisten in den Jahren von 1900 bis 1948 einen harten Kampf führten.

Die zentrale These der Arbeit besteht in der Feststellung, dass Nationalität nicht als soziale Wahl, sondern als eine angeborene Zugehörigkeit betrachtet wurde, die den Bürgern vom Staat oft aufgezwungen wurde. Die Autorin behauptet, dass der Nationalismus der mittleren sozialen Schicht eigentlich gleichgültig war. Die nationalistischen Politiker missbrauchten diese Schicht aber zu ihren Zwecken, indem sie diese in Sportvereine und andere bürgerliche Aktivitäten einbezogen. Die meisten Vereine hatten ihre ideologische und politische Agenda, die auf soziale Fragen ausgerichtet war. Über die letzteren gewannen die Nationalisten „ihre Seelen“ für ihre nationalen Lager. Tara Zahra belegt diese These überzeugend mit umfangreichem Material sowohl aus tschechischen als auch aus österreichischen Archiven.

In der Arbeit beschäftigt sich die Autorin mit dem Aufschwung des tschechischen und deutschen Nationalismus um die Jahrhundertwende in den böhmischen Ländern und veranschaulicht, wie sich der Nationalismus in der neu entstandenen Tschechoslowakei weiterentwickelte und welche Auswirkungen er auf die politischen und sozialen Verhältnisse hatte. Bemerkenswert an dieser Arbeit ist der aufgezeigte Zusammenhang zwischen Nationalismus und Demokratie, der sich in einer speziellen Konzeption der „nationalen Demokratie“ (S. 108) ausdrückte. Hiermit wirft Tara Zahra einen neuen Blick auf die Demokratie in dem neu entstandenen Staat. Anhand zeitgenössischer Dokumente gelingt es der Autorin zu zeigen, dass der Staat in den Fragen der nationalen Zugehörigkeit seine Macht ausübte, indem er über die nationale Identität der Kinder und manchmal auch der Eltern kompromisslos entschied. Aufschlussreich in Zahras Untersuchungen ist die implizite Beobachtung, dass sich in dem Klima des Kampfes um nationale Identitäten totalitäre Praktiken entwickelten, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Machtübernahme der Kommunisten in der Tschechoslowakei ermöglichten.

In der Zeit des Zweiten Weltkrieges deckt die Autorin ein Paradoxon auf. Am Beispiel der tschechischen Kinder veranschaulicht Tara Zahra, dass sich die Deutschen bemühten, die tschechischen Kinder zu germanisieren. Gleichzeitig entsprach die nationale Zugehörigkeit nicht unbedingt der ideologischen bzw. politischen. In der Praxis bedeutete dies, dass „many families may have maintained a German identity without becoming self-identified Nazis“ (S. 194). Einige Familien allerdings „nazified without becoming Germans. Race and conduct ultimately offered two different paths into the Nazi Volksgemeinschaft“ (S. 194). Unter den Tschechen entwickelten sich der Autorin zufolge unterschiedliche Arten von Nationalismus, wobei nicht alle unbedingt gegen die Nationalsozialisten gerichtet waren, mit denen viele Tschechen sympathisierten. Die Autorin unterscheidet zwischen dem sog. „Stay-at-Home Nationalism“ und dem „Reich-Loyal Czech Nationalism“. Die Sympathie mit dem Nationalsozialismus hatte zur Folge, dass unter den Tschechen Kollaboration und gleichzeitiger Widerstand die Norm gewesen seien (S. 233). „One could be both: a Czech Nationalist and a loyal Reich subject.“ (239) Diese Erscheinung belegt Tara Zahra mit den Vereinen, die unter den Nationalsozialisten für die tschechische Jugend entstanden. Im größten Verein, dem Kuratorium, waren sowohl führende Mitglieder des pronazistischen Vereins „Vlajka“ als auch Funktionäre des antideutschen Vereins „Sokol“ vertreten. Kollaboration der Tschechen mit den deutschen Nationalsozialisten war eine nicht ungewöhnliche Erscheinung, wobei die Tschechen danach strebten, den tschechischen Nationalismus auf diese Art zu stärken.

Diese aufschlussreiche Beobachtung wird jedoch durch die mangelhafte Differenzierung anderer Formen von Nationalismus geschwächt. In der Analyse fehlt die Unterscheidung zwischen den Kommunisten und links- bzw. rechtsgerichteten Antifaschisten, was gleichzeitig mit der unzureichenden Analyse des politischen Diskurses der linken und rechten politischen Parteien zusammenhängt. Auf der formalen Seite ist es bedauerlich, dass Zahras Publikation kein Literaturverzeichnis enthält.

Trotz der genannten Defizite ist Zahras Publikation ein hervorragendes Buch, in dem Fragen aufgeworfen werden, die an Aktualität und Bedeutung nichts verloren haben.

Michaela Peroutková, Prag

Zitierweise: Michaela Peroutková über: Tara Zahra: Kidnapped Souls. National Indifference and the Battle for Children in the Bohemian Lands 1900–1948. Cornell University Press Ithaca and London 2008. XVII, ISBN: 978-0-8014-4628-3, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 2, S. 296: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Peroutkova_Zahra_Kidnapped_Souls.html (Datum des Seitenbesuchs)