Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012) H. 3, S. 413-415

Verfasst von: Irina Pavlova

 

Charlotte E. Henze: Disease, Health Care and Government in Late Imperial Russia. Life and Death on the Volga, 1823–1914. New York, London: Routledge, 2011. XVI, 227 S., Abb., Ktn., Tab. ISBN: 978-0-415-54794-9.

Die Fähigkeit, angemessen und zeitnah auf Bedrohungen durch Epidemien zu reagieren, stellt eines der fundamentalen Merkmale des modernen Staates und der modernen Gesellschaften dar. Grundlagen dafür sind die Einrichtungen der öffentlichen Hygiene und Gesundheitsfürsorge, die in Europa während des 19. Jahrhunderts geschaffen wurden.

Cholera“ ist im Russischen ein Wort mit besonderer Bedeutung, das sogar zu einem weitverbreiteten Schimpfwort wurde, das beispielsweise V. I. Dal’ in sein berühmtes Wörterbuch aufgenommen hat. Henze betrachtet die Cholera als ein klassisches Übel im Gefolge von Industrialisierung und Turbo-Urbanisierung, Entwicklungen, die durch die Überbevölkerung der Städte einerseits und ein unterentwickeltes Gesundheitswesen andererseits hervorgerufen wurden. Die Autorin legt den Akzent auf die Spätphase des russländischen Reiches, um die Besonderheiten der Epidemienbekämpfung unter den Bedingungen einer über die Entstehungsphase bereits hinausgekommenen, aber immer noch begrenzten lokalen Selbstverwaltung und einer starken Zentralmacht aufzuzeigen. Henze hat es sich zur Aufgabe gemacht, herauszufinden, welche Rolle die Verwaltungsstrukturen beim Kampf gegen die Cholera spielten, und zu zeigen, für welche Erfolge und Misserfolge sie verantwortlich waren.

Ende des 19. Jahrhunderts entstand eine widersprüchliche Situation: Auf der einen Seite sollten nach der Einführung der lokalen Selbstverwaltung deren Organe (zemstva und gorodskie dumy) die Verantwortung für das Gesundheitswesen übernehmen und qualitative Verbesserungen erreichen. Andererseits waren die Handlungsmöglichkeiten der Selbstverwaltung durch unzureichende finanzielle Ausstattung, durch geringe Effizienz und durch den auf ihr lastenden Druck der Regierung sehr eingeschränkt. Zu jener Zeit entwickelte sich sowohl die Medizin als moderne Wissenschaft als auch die medizinische Ausbildung an den Universitäten. Eine grundlegende Erneuerung der sozialen und städtischen Infrastruktur fand nicht statt.

An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war der Staat gezwungen, Wohltätigkeitsorganisationen und Ärzteverbänden verhältnismäßig viel Freiheit zu gewähren. Die Ärzte schwangen sich sogar zu politischen Forderungen auf und unterstützten liberale Vorschläge zur Veränderung der Staatsgrundgesetze. Die Regierung, die zivilgesellschaftliche Aktivitäten fürchtete, schloss daher die medizinischen Experten sogar bei dem politischen Vorhaben der Modernisierung der Seuchenbekämpfung aus dem Entscheidungsprozess aus. Im Ergebnis zeitigten die ergriffenen Maßnahmen nicht den gewünschten Erfolg und auch die drängenden sozialen Fragen blieben ungelöst.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts trat die Cholera in Saratov Jahr für Jahr wieder auf. Diese sich wiederholende Erfahrung und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen machen das Thema der Untersuchung und damit auch Henzes Arbeit hochaktuell, ist doch die Einschränkung der Handlungsfreiheit der lokalen Selbstverwaltungen durch die starke Zentralmacht und die Erfahrung der negativen Konsequenzen dieser Einschränkung ein wesentlicher, in der Tradition wurzelnder und bis heute wirksamer Aspekt der politischen und gesellschaftlichen Realität in Russland.

Das Thema der Monographie lässt sich auch als Aspekt der Medizingeschichte betrachten. So ist es der Autorin gelungen, medizinische Fragen in einen gesellschaftlichen Kontext zu stellen, hat doch die Gesundheitsvorsorge unmittelbare Auswirkungen nicht nur auf das Leben jedes Einzelnen, vor allem jedes einzelnen Kranken, sondern auch auf die Angehörigen der unterschiedlichsten Schichten der Gesellschaft, ja auf die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit.

Russland war aufgrund seiner geographischen Lage und Ausdehnung als Europa und Asien miteinander verbindender und Teile davon in sich vereinender Staat ein „Einfalls­tor für epidemische Erkrankungen“, auch und gerade für die Cholera. Davon, wie es dem Russländischen Reich gelang, dieses „Tor“ zu schließen, hing für Europa viel ab. Zwischen 1823 und 1925, als man die Cholera-Epidemien endlich unter Kontrolle bekam, also im Laufe von ungefähr 100 Jahren, wurden in Russland 55 „Cholera-Jahre“ gezählt, d.h. Jahre, in welchen nicht nur einzelne Erkrankungsfälle gezählt wurden. In diesem Zeitraum erkrankten in Russland ungefähr 5,5 Millionen Menschen an der Cholera, 2,3 Millionen fielen ihr zum Opfer.

Die von der Autorin vorgenommene geographische Eingrenzung der Untersuchung ist durchaus gerechtfertigt. Die Cholera breitete sich aus der Ganges-Region über die Karawanenrouten sowohl nach Orenburg als auch in den Fernen Osten aus. Öfter noch fand sie ihren Weg nach Russland über das Kaspische Meer und die Wolga. Von der Peripherie des Reiches drang die Cholera vor allem mit den Saisonarbeitern in die Zentren Russlands vor. Durch die schnelle Entwicklung des Eisenbahnwesens wurde dies noch begünstigt und beschleunigt. Obwohl im Untertitel des Buches als untersuchter geographischer Raum ganz allgemein die „Wolga-Region“ genannt ist, beschränkt sich die Analyse in Wirklichkeit auf die Region Saratov. Die geographische Lage dieser Stadt inmitten der Wolga-Region direkt am Einfallsweg der Cholera ins Innere des Reiches erklärt, warum die Autorin ihr Thema ausgerechnet am Beispiel Saratovs behandelt.

Henze selbst weist darauf hin, dass die Untersuchungsmethode von der Tatsache auszugehen hatte, dass die Quellen zum Thema zwar umfangreich, aber in erheblichem Maße unvollständig sind (S. 7). Erst nach den Reformen der städtischen Selbstverwaltung in den Jahren 1871 und 1892 setzte eine massenhafte und systematische Überlieferung ein. Im westlichen Europa geschah dies schon bedeutend früher, nämlich nach der Cholera-Epidemie von 1830/31, als die durch die massenhaften Erkrankungen verursachte Erschütterung die Tätigkeit der lokalen Verwaltungsorgane nachhaltig veränderte.

Charlotte Henzes Arbeit ist überzeugend strukturiert. Von 1823, dem Jahr der ersten Seuchenwelle, bis 1914 kam es zu sechs Cholera-Epidemien, anhand welcher die Autorin ihr Material chronologisch geordnet hat. Das erste Kapitel analysiert zunächst die Epidemie-Fälle in Russland bis 1848 mit den ersten Versuchen, die Ausbreitung der Cholera einzudämmen, und dann der Zeitspanne bis 1873, in der medizinische Maßnahmen zur Bekämpfung der Cholera-Epidemien entwickelt wurden. Im zweiten Kapitel unternimmt die Autorin eine historisch-soziologische Beschreibung von Saratov am Vorabend der Cholera-Epidemie von 1892. Henze betont deren Einmaligkeit durch den zeitlichen Zusammenfall mit der großen Hungersnot und widmet dem Kampf gegen die Seuche ein eigenes, nämlich das dritte Kapitel. Diese besondere Aufmerksamkeit resultiert sowohl aus der großen Betriebsamkeit der staatlichen Verantwortungsträger, die ihrerseits eine Antwort auf die Massenunruhen in der Bevölkerung war, als auch aus der Fülle der überlieferten Quellen. Diese erklärt sich aus der wichtigen Rolle des Zemstvo-Medizinalwesens, das eine dichte Überlieferung hinterließ, die dann durch die 1904 gegründete Medizinisch-Statistische Abteilung eine systematischere Struktur erhielt. Das vierte Kapitel behandelt die Bemühungen der Politik, die öffentliche Gesundheit und Hygiene mit medizinischen Maßnahmen zu verbessern. Das untersuchte Quellenmaterial erlaubt Rückschlüsse sowohl auf den Stand der medizinischen Kenntnisse und Fertigkeiten als auch auf die praktische Tätigkeit des medizinischen Personals der privaten und der Zemstvo-Krankenhäuser. Auf überzeugende Weise zeigt die Autorin, wie weit das Niveau der Medizin in der Provinz hinter dem in St. Petersburg zurücklag. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, genauer in den Jahren 1904 bis 1910, also dem Zeitraum, dem das fünfte Kapitel gewidmet ist, kehrte die Cholera erneut nach Russland zurück und erfasste mehr als 70 Regionen des Landes. All dies geschah vor dem Hintergrund der Niederlage des Reiches im Russisch-Japanischen Krieg und der Ersten Russischen Revolution. Obwohl in dieser Periode in den Risikogebieten erstmals versucht wurde, die Ausbreitung der Krankheit durch Reihenimpfungen einzudämmen, griff die Epidemie rasant um sich. Die Autorin charakterisiert den Kampf mit diesem sechsten epidemischen Auftreten der Cholera im Vergleich mit der Welle von 1892 als formalisierter, organisierter und strukturierter (S. 123). Dieser Teil der Monographie zeichnet sich durch eine dichte Erzählung aus; Es wird Tag für Tag aufgezeigt, wie sich Verwaltung und Gesundheitswesen in Saratov auf den drohenden Ausbruch der Seuche vorbereiteten. Im Vergleich mit den anderen Städten an der mittleren und unteren Wolga konnte Saratov als die größte Stadt dank den Anstrengungen der Kommune und der Zemstvo-Medizin auch die besten Ergebnisse vorweisen (S. 144). Diesen Erfolg machten unter anderem spezielle Aufklärungskampagnen, Mikroskopier-Kurse und Bakteriologie-Schulungen für Provinzärzte sowie die Tätigkeit von Gesundheits- und Hygienebüros möglich.

Den größten Teil der von Henze benutzten Quellen stellen zeitgenössische Druckschriften dar: Rechenschaftsberichte, Vorträge, statistische Unterlagen, Periodika (mehr als 30 Zeitungs- und Zeitschriftentitel) und Materialien wissenschaftlicher Konferenzen und Ärztekongresse. Während die Autorin dieses von ihr selbst als verstreut bezeichnete Quellenmaterial sorgfältig auswertet, lässt sie ohne Angabe von Gründen die ungedruckten Quellen aus dem Staatlichen Archiv des Gebiets Saratov und aus anderen Archiven der Region unberücksichtigt. Auch einzelne einschlägige wissenschaftliche Publikationen in russischer Sprache, beispielsweise die Arbeiten von K. Vasil’ev und A. Segal über die Geschichte der Epidemien in Russland aus dem Jahr 1960, werden nicht verwendet.

In Darstellungen zur russischen Geschichte werden die untersuchten Phänomene, Entwicklungen und Strukturen häufig denjenigen in Europa vergleichend gegenübergestellt. Dies gilt auch hier: Russland hinkte auf dem Gebiet der öffentlichen Gesundheit und Hygiene der Entwicklung in den industrialisierten Ländern des westlichen Europa hinterher, was im Zusammenhang mit den Cholera-Epidemien deutlich zutage trat. Meiner Meinung nach bedürften solche vergleichenden Gegenüberstellungen einer faktischen Untermauerung. So wäre es überaus wünschenswert gewesen, wenn die Autorin die Behauptung, in den industrialisierten Ländern wäre zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Cholera-Epidemie fast für einen Anachronismus gehalten worden (S. 122), während sich die Cholera in Russland noch weit ausbreiten konnte, durch entsprechende Belege über die letzten Cholera-Epidemien im westlichen Europa und darüber, mit welchen Maßnahmen die Seuche hier besiegt wurde, abgesichert hätte.

Insgesamt ist Henzes Arbeit als gelungen zu betrachten. Die Sprache des Buches zeichnet sich durch Flüssigkeit, Lebendigkeit und gleichzeitig Wissenschaftlichkeit aus. Abbildungen, Karten und Tabellen veranschaulichen das Gesagte.

Irina P. Pavlova, Krasnojarsk

Zitierweise: Irina Pavlova über: Charlotte E. Henze: Disease, Health Care and Government in Late Imperial Russia. Life and Death on the Volga, 1823–1914. New York, London: Routledge, 2011. XVI, 227 S., Abb., Ktn., Tab. ISBN: 978-0-415-54794-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Pavlova_Henze_Disease_Health_Care_and_Government.html (Datum des Seitenbesuchs)

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