Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

 

Ausgabe: 59 (2011) H. 1

Verfasst von:Jana Osterkamp

 

Tomasz Giaro (Hrsg.) Modernisierung durch Transfer zwischen den Weltkriegen. Frankfurt: Klostermann, 2007. VIII, 317 S. = Rechts­kul­tu­ren des modernen Osteuropa. Traditionen und Transfers, 2; Studien zur europäischen Rechtsge­schichte, 215. ISBN: 978-3-465-04017-0.

„Modernisierung“ betrifft die Phänomene sozialen Wandels seit dem 19. Jahrhundert. Dazu gehören nach der heute nicht mehr unumstrittenen Auffassung der Modernisierungstheorie auf staatlicher Ebene Nationalstaatlichkeit und Demokratie, auf gesellschaftlicher Ebene Prozesse der Egalisierung, Individualisierung und Neuordnung der Geschlechterverhältnisse sowie in wirtschaftlicher Hinsicht Industrialisierung. In rechtlicher Hinsicht bedeutet Modernisierung sowohl die Verrechtlichung von bislang nicht regulierten gesellschaftlichen Bereichen als auch die Rationalisierung bestehenden Rechts. Für diesen Bereich legt der zweite Sammelband des Forschungsprojekts „Rechtskulturen des modernen Osteuropa. Traditionen und Transfers“ am Frankfurter Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte nun eine eigene Deutung vor. Der Band „Modernisierung durch Transfer zwischen den Weltkriegen“ geht für den Rechtsbereich von einem exogenen Modernisierungsprozess aus, in welchem Rechtsentwicklungen des Westens nachholend rezipiert werden. „Transfer“ wird vom Herausgeber Tomasz Giaro dabei ebenso als „Fall der exogenen Rechtsänderung“ (S. 308) verstanden. Wie Giaros Aufsatz zur Begrifflichkeit von Transfer, Rezeption, Alt- und Neueuropa (und damit „West“ und „Ost“) zeigt, lag dem Forschungsprojekt auch die Frage zugrunde, in welcher Beziehung die Rezeption des antiken römischen Rechts und die späteren „Großtransfers“ des modernen Rechts zueinander standen. Diese Frage betrifft allerdings lediglich den Bereich der Zivilrechtsgeschichte und wurde von den Autoren kaum aufgegriffen.

Der zeitliche Schwerpunkt des Bandes liegt auf der Rechtsentwicklung der Zwischenkriegszeit. Gegenstand des Bandes sind daher ganz unterschiedliche „Modernen“. Der Band beschreibt die Rechtsentwicklung in bereits stark industrialisierten Gebieten wie etwa der Tschechoslowakei (Miriam Laclavíková, Petra Skřejp­ková), in mäßig bis weniger industrialisierten Ländern wie Estland, Lettland (Toomas Anepaio), Polen (Wojciech Witkowski, Andrzej Wrzyszcz) und Ungarn (Katalin Gönczi) und den Staaten mit einer verzögerten industriellen Entwicklung wie Albanien (Natasha Shehu), Litauen (Toomas Anepaio), Rumänien (Vladimir Han­ga, Lucian Goga), Jugoslawien (Mirela Krešic, Srdan Šarkic, Maša Kulauzov) und Bulgarien (Jani Kirov, Christian Takoff) – sowie nicht zuletzt Russland (Maryna Kazimirova, Oleg Subbotin) und Griechenland (Michael Tsa­po­gas). Dementsprechend verschieden waren auch die Prozesse der Rechtsmodernisierung. In einigen Ländern wurden nach dem Ersten Weltkrieg erstmals Zivilrechtskodifikationen verabschiedet, oft nach französischem Vorbild (Albanien, S. 189–190) oder nach Schweizer Muster (Ungarn, S. 80–81). In anderen Staaten stand die Rechtsvereinheitlichung unter Einbeziehung bestehender Kodifikationen im Vordergrund (Baltikum, S. 19; Jugoslawien, S. 155ff.; Tschecho­slowakei, S. 221ff., S. 238ff.). Unterschiedliche Entwicklungspfade lassen sich auch bei den Verfassungstransfers erkennen. Vorbild der mittel- und osteuropäischen Demokratien waren oft die französische, die belgische, die Schweizer, aber auch die Weimarer Verfassung (z. B. Tschechoslowakei, S. 214). Hierbei erfolgte manch­mal nur eine Übernahme der äußeren Form, nicht aber die Aneignung der zugrundeliegenden Werte (Albanien, S. 187; Baltikum, S. 21; Polen, S. 250; Rumänien, S. 63). Daher waren vom Transferprozess die zahlreichen autoritären und diktatorischen Entwicklungen in den dreißiger Jahren nicht ausgenommen (Bulgarien, S. 148; Polen, S. 253; Rumänien, S. 43ff.; Ungarn, S. 75–76). Ein interessanter Aspekt ist dabei der „sozialistische Charakter“ (S. 139) von Enteignungen, insbesondere in Bulgarien oder nach sowjetischem Modell im ungarischen Rätesystem (S. 73). In der Zusammenschau bietet sich ein schwer zu entwirrendes Geflecht von Modernisierungstendenzen auf der einen Seite – hier ist insbesondere das novellierte Zivil-, Familien- und Bodenrecht zu nennen – und anti-modernen Gegenbewegungen auf der anderen Seite – hier ist auf transnationale Phänomene des Wirtschaftsdirigismus, Führerkults und der gesellschaftlichen Militarisierung hinzuweisen.

Aus dieser Entwicklung fällt der sowjetische Fall heraus, der zu einem Teil als ein Beispiel für Modernisierung ohne Transfer gelten kann. Das sowjetische Recht wurde zwar nicht aus dem Nichts geschaffen, sondern es griff durchaus auf Vorarbeiten der Zarenzeit zurück (S. 102). Doch wurde etwa das sowjetische Arbeitsrecht unabhängig vom bestehenden, nach westlichem Muster organisierten Zivilrecht geschaffen, wie Subbotin in seinem Aufsatz zeigt (S. 105). Es umfasste Elemente sozialer Sicherung (Sozialversicherung, Lohnfestsetzung, Acht-Stunden-Tag) ebenso wie autoritäre, mit polizeilichen Mitteln sanktionierte Zwangsmaßnahmen, darunter die berüchtigte Arbeitspflicht, Zwangs- und Erziehungsarbeit. Nicht zuletzt aufgrund dieser autoritären und repressiven Formen diente es dem Regime als ein wichtiges Mittel der staatlichen Industrialisierungs- und Modernisierungspolitik (S. 136).

Der Sammelband lässt v. a. jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus den jeweiligen Ländern zu Wort kommen und vereint damit unterschiedliche Wissenschaftskulturen. Dadurch war eine Disparität der Beiträge unvermeidlich. Außerdem geht es den Autoren und Autorinnen teilweise oft noch schlicht darum, Fakten und Ereignisse der nationalen Rechtsgeschichte zu rekonstruieren. Indem Vertreter der deutsch- oder englischsprachigen Forschung außen vor gelassen wurden, überwiegt zumeist eine gewisse Beschränkung auf die jeweilige nationale Historiographie. Für den an der übergeordneten Fragestellung des Bandes interessierten Leser hat dies zur Folge, dass er in dem äußerst interessanten Material Ergebnisse und Argumente manchmal wie lose Enden vorfindet, die er selbst erst zu den Antworten auf seine Fragen verknüpfen muss. Ein wichtiges Fazit lässt sich dennoch ziehen: Das Phänomen des Rechtstranfers erklärt einen wichtigen Teil des Modernisierungsprozesses in Osteuropa, doch kommt endogenen Faktoren und der Kreativität bei der Herausbildung neuen Rechts zumindest eine ebenso wichtige Bedeutung zu.

Jana Osterkamp, München

Zitierweise: Jana Osterkamp über: Tomasz Giaro (Hrsg.) Modernisierung durch Transfer zwischen den Weltkriegen. Vittorio Klostermann Verlag Frankfurt a.M. 2007. VIII, 317 S. = Rechtskulturen des modernen Osteuropa. Traditionen und Transfers, 2; Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, 215. ISBN: 978-3-465-04017-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Osterkamp_Giaro_Modernisierung_durch_Transfer.html (Datum des Seitenbesuchs)

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