Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 3

Verfasst von: Alexandra Oberländer

 

Laura Engelstein: Slavophile Empire. Imperial Russia’s Illiberal Path. Ithaca, NY, London: Cornell University Press, 2009. XII, 239 S., Abb. ISBN: 978-0-8014-7592-4.

Laura Engelsteins Artikel „Combined Underdevelopment“ gehört seit seinem Erscheinen in den neunziger Jahren zur Pflichtlektüre von Historikerinnen und Historikern des ausgehenden Zarenreiches. Die Frage, ob Foucaults Ideen über Subjektivität und Recht auf das späte Zarenreich anzuwenden seien, beantwortete Engelstein in diesem Artikel überraschend mit nein, nachdem sie doch selbst mit ihrem Buch „Keys to Happiness“ von 1992 ein Standardwerk zur Sexualität in jener Epoche veröffentlicht und damit Foucault für die Geschichte Osteuropas salonfähig gemacht hatte. Den Zweifel an der Anwendbarkeit Foucaults gepaart mit dem Glauben an einen russischen Sonderweg baut Laura Engelstein nun in „Slavophile Empire“ weiter aus. Die Hauptthese des Buches bleibt der Linie des Artikels aus dem Jahre 1993 treu: Der Liberalismus in Russland sei grandios gescheitert. Mehr noch: Dieses Scheitern habe mitnichten der Liberalismus selbst zu verantworten; vielmehr sei er zwischen der reaktionären Autokratie und dem aufrührerischen, revolutionären Volk zerrieben worden. Zu den Folgen dieses „antiliberalen Konsenses“ (ix) gehört laut Engelstein die Diktatur der Bolševiki ebenso wie das heutige autoritäre Russland unter Putin und Medwedew. Streitbare Thesen also, die Laura Engelstein dann auch noch an einem Gegenstand zu belegen versucht, den man in diesem Zusammenhang wohl am wenigsten erwartet hätte: der Rolle der Religion und der Orthodoxie.

Ähnlich wie ihr Buch „Keys to Happiness“ ist auch „Slavophile Empire“ in großen Teilen eine Sammlung bereits publizierter Artikel. „Debatten über Religion und Säkularisierung sowie die Rolle von Kultur und Recht in einem traditionellen Regime, das eine sich modernisierende Gesellschaft regiert“ (ix), bilden den gemeinsamen Nenner. Doch zunächst bleibt die mangelnde Durchsetzung des Rechtsstaates, der laut Engelstein eine Wunschvorstellung einiger weniger Liberaler blieb, das bestimmende Thema im ersten Teil des Buches. Mit dem bereits erwähnten, hier wieder abgedruckten Artikel „Combined Underdevelopment“, dem zwei weitere Kapitel über Zivilgesellschaft und Religionsfreiheit folgen, versucht Engelstein zu erklären, warum sich der Rechtsstaat in Russland nicht habe durchsetzen können: Die zentralen politischen Akteure des Zarenreiches, die sie, wenig überraschend, in der Autokratie, der Intelligencija und dem Volk entdeckt, fanden schlicht nicht zueinander. Die Autokratie sei darum bemüht gewesen, ihre Macht zu sichern, die gebildeten Eliten hätten die souveräne Machtausübung kritisiert, und das Volk sei seit Pugačevs Aufstand renitent und widerständig geblieben. In den Kommunikations­schwierigkeiten zwischen diesen Parteien entdeckt Engelstein ein Paradoxon, welches für sie zentral ist zum Verständnis der russischen Geschichte: Die Autokratie selbst wollte sich mit moderaten Reformen selbst erhalten und habe doch genau damit zu ihrem Untergang beigetragen. Wie sehr beispielsweise die Gerichtssäle seit der Justizreform von 1864 ein Ort der Öffentlichkeit waren, die es aber laut autokratischem Standpunkt zu vermeiden gegolten hätte, verdeutlicht Laura Engelstein unter anderem an den Prozessen gegen Terroristinnen und Terroristen in den 1870er Jahren. Während der öffentlichen Gerichtsverhandlungen hätten die in der Regel liberalen Anwälte die Defizite des Rechtswesens offen thematisieren können und die Angeklagten gar das Rechtssystem selbst in Frage gestellt. Laut Engelstein überholten die russischen Radikalen in ihrer unversöhnlichen Verurteilung des „Rechts als bürgerliche Unterdrückungsinstanz“ noch ihre europäischen Gesinnungsgenossen, die das Recht nicht abschaffen, sondern demokratisieren wollten. (S. 87) Dass die Idee der radikalen Kritik am Recht allerdings nicht nur von Russen wie Bakunin, sondern auch von ‚Europäern‘ wie Marx formuliert wurde, verschweigt Engelstein an dieser Stelle.

Ihr Befund, dass Russland nicht europäisch habe werden können, weil dies nur eine Minderheit gewollt habe, lebt an vielen Stellen von einer Idealisierung dessen, was ‚Europa‘ oder aber der ‚Westen‘ gewesen sein soll. Schon im ersten Satz ihrer Einleitung hält Engelstein fest, dass Russland die zentralen Merkmale des westlichen liberalen Modells unbekannt gewesen seien, nämlich Staatsbürgerschaft und bürgerliche Rechte. Stattdessen war es die Orthodoxie, die Untertanen und Zar vereinte und somit das multireligiöse Imperium in eine Schieflage brachte. Der Orthodoxie als der wesentlichen Klammer der russischen Autokratie und ihrer Untertanen nahmen sich auch die Liberalen an, die Russland zu einem modernen Nationalstaat hätten reformieren wollen. Sie forderten Religionsfreiheit und versuchten so das autokratisch und religiös begründete Verhältnis von Herrscher und Untertan zu verwandeln in eines von Bürger und Souverän.

Die beiden folgenden Kapitel zu den Slavophilen Aleksej Chomjakov und Ivan Kireevskij stehen für die ‚russischen‘ Traditionen und den Widerstand gegen westliche Tendenzen. Diese westlichen Tendenzen sind nun allerdings andere als der liberale Wunsch nach der Einführung des Rechtsstaates, immerhin bestimmendes Thema in der ersten Hälfte des Buches. Wogegen sich also Chomjakov und Kireevskij wandten, waren vielmehr vage Vorstellungen davon, was den „Westen“ im Unterschied zum „Osten“ ausmachen würde. Der Anschluss an die vorhergehenden Kapitel fällt demnach schwer. Im Kapitel über Chomjakov gelingt es Engelstein noch, ebenjene westlichen Wurzeln etwa im romantischen Denken Chomjakovs aufzuzeigen. Weniger überzeugend ist jedoch ihre Erzählung über Kireevskijs Selbstfindung durch Schreiben. Engelstein deutet Kireevskijs Kampf mit sich selbst als den Versuch „russisch“ zu werden. Kireevskij will die Rationalität verdrängen, er will sein Herz über seinen Geist regieren lassen. Als zentrales Hilfsmittel dient ihm dabei die orthodoxe Religion. Während er nach der Gemeinschaft der Frommen und Gläubigen strebt – was „russisch“ sein soll –, fällt er doch immer wieder auf seine private Interessenverfolgung zurück. Diese Individualisierung deutet Kireevskij als Regress und Engelstein als nicht russische, sondern als genuin westliche Idee. Weshalb jedoch Individualisierung und Selbstdisziplinierung per definitionem nicht „russisch“ sein können? Eine Antwort darauf bleibt Engelstein schuldig. Sie zehrt somit an einer zentralen Stelle ihrer Argumentation von Setzungen, die sie nicht einholt. So sehr Engelstein den antiliberalen Konsens der Slavophilen betonen will – man könnte ihre Fallbeispiele auch für exakt entgegengesetzte Tendenzen lesen, nämlich dafür, wie sehr sich  etwa („westliche“) Techniken des Selbst auch in Russland schon durchgesetzt hatten.

Der Liberalismus erscheint als heilbringende Ideologie, die in Russland leider nur von einer Minderheit von Intellektuellen getragen wurde. Dass die ideologische Basis des Liberalismus jedoch offen ist für den Umschlag ins Autoritäre und nicht zuletzt weder in der Lage war, den Nationalsozialismus, noch den Stalinismus aufzuhalten, ist für Laura Engelstein kein Grund, sich möglichen gemeinsamen Wurzeln zu widmen, sondern umso mehr auf dem Scheitern ihres politischen (Wunsch-)Modells zu beharren. Sie liefert der Debatte um, wenn man so will, den russischen Sonderweg weiteren Zündstoff. Zweifellos tut sie dies in einer ausgesprochen lesenswerten, unterhaltsamen wie informierten Art und Weise. So ist etwa das sechste Kapitel über die Ikonen Aleksandr Ivanovs ein gelungener Parforceritt durch annähernd 150 Jahre Rezeptionsgeschichte. Und auch das letzte Kapitel zur Virulenz antisemitischer Einstellungen in der russischen Intelligenzija bietet viele Einsichten. So waren viele der Argumente, die die russischen Liberalen gegen Antisemitismus vorbrachten, religiös und christlich inspiriert und transportierten solcherart universale Werte. Doch während die meisten der Kapitel für sich genommen überzeugen können, so ist doch die große Erzählung innerhalb des Buches über die Gründe des Scheiterns des Liberalismus weniger überzeugend.

Alexandra Oberländer, Bremen

Zitierweise: Alexandra Oberländer über: JGO_Rezensionen, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Oberlaender_Engelstein_Slavophile_Empire.html (Datum des Seitenbesuchs)

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