Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012), H. 3, S. 466-467

Verfasst von: Alvydas Nikžentaitis

 

Vilnius. Geschichte und Gedächtnis einer Stadt zwischen den Kulturen. Hrsg. von Martin Schulze Wessel, Irene Götz und Ekaterina Makhotina. Frankfurt a.M., New York: Campus, 2010. 248 S., 86 Abb. ISBN: 978-3-593-39308-7.

Forschungen zu Erinnerungs- und Gedächtniskulturen erfreuen sich seit jüngster Zeit in der Geschichtswissenschaft großer Popularität. Auch Münchener Historiker, genauer gesagt Studierende des Elitestudiengangs „Osteuropastudien“ der Ludwig-Maximilians-Universität München, haben sich, angeleitet von den Herausgebern des Sammelbandes, mit den Erinnerungskulturen der Hauptstadt Litauens auseinandergesetzt und ihre Ergebnisse nun im Druck vorgelegt. Nach Ansicht der Herausgeber und der Autoren des Bandes lohnt Vilnius aus erinnerungskultureller Sicht untersucht zu werden, weil vor allem hier Orte mit einem hohen Anteil an divergierenden kollektiven Gedächtnissen im Stadtbild zu finden sind. In Vilnius existieren – nebeneinander und manchmal auch ineinander verflochten – litauische, polnische, jüdische und belarussische Erinnerungs­kulturen. Außerdem ist die Erinnerung an die Sowjetzeit aus der Stadtlandschaft nicht ganz getilgt, und es lässt sich leicht auch eine europäische Perspektive der Erinnerung in der Stadt erkennen. Fünf verschiedene Perspektiven – nämlich die litauische, jüdische, polnische, sowjetische und europäische – werden im Buch präsentiert. Leider haben die Verfasser die nicht so deutlich sichtbare, aber im Stadtbild durchaus existierende belarussische Erinnerungskultur außer Acht gelassen. Weil viele Erinnerungsorte in der Stadt gleichzeitig für verschiedene nationale Gruppen von Bedeutung sind, hätte eine siebte, speziell die verflochtenen Erinnerungskulturen in den Blick nehmende Perspektive das Gesamtergebnis noch verbessert.

Das Buch ist gut strukturiert. Die Verfasser geben zuerst einen Überblick über die jeweiligen Perspektiven, danach besprechen sie ausführlich einzelne, die jeweilige Erinnerungskultur symbolisierende Objekte. Damit bekommt dieses Buch Züge eines Reiseführers, der den Leser durch die komplizierte Landschaft der Erinnerungskulturen in der Stadt leitet.

Den Band kann man aus zwei Blickwinkeln beurteilen: Wenn man sich auf die Richtigkeit und Präzision der faktischen Angaben konzentriert, so fallen doch manche Fehler und Widersprüche ins Auge. Verschiedene Autoren besprechen zwar dieselben Objekte in der Stadttopographie, geben dabei jedoch widersprüchliche Informationen. So sollte auf dem ehemaligen Lenin-Platz einem Autor zufolge ein „Grab des unbekannten Partisanen“ gebaut werden (S. 10), dagegen schreibt ein anderer von einem Denkmal für den „baltischen Weg“ (S. 163). Auch entsteht bei der Lektüre des Buches der Eindruck, dass es offenbar manchem Autor schwerfiel, sich in der Welt der mittelalterlichen Fürsten Litauens, die eine wichtige Rolle in der litauischen Erinnerungskultur spielen, zu orientieren. So heißt es in einem der Beiträge des Sammelbandes: „… das Wirken des Königs Mindaugas [stellte] ein wichtiges Thema der von der Nationalbewegung inspirierten Historiographie dar“; „der Name Mindaugas [stand] bis vor wenigen Jahren sogar auf dem ersten Platz bei der Wahl der Kindernamen“ (S. 29). Diese Feststellung ist allerdings nur richtig, wenn wir anstatt von Mindaugas vom Großfürsten Vytautas (1392–1430) reden. Auch die Darstellungen der Geschichte einzelner Denkmäler weisen Fehler auf. So wurde in Vilnius ein Denkmal für Marytė Melnikaitė „gefunden“, das tatsächlich nie gebaut wurde (S. 164), während andere, heute nicht mehr existierende Denkmäler falsch lokalisiert sind. Unverdient wurde den Litauern der Abriss des Denkmals von Michail N. Murav’ev zugeschrieben (S. 40); tatsächlich haben russische Truppen 1915 dieses Denkmal demontiert, bevor sie die Stadt vor dem Einrücken der deutschen Truppen verließen. Im heutigen Russland wie früher in der Sowjetunion versucht man, die Erinnerung an die ermordeten sowjetischen Kriegsgefangenen zu verdrängen. Dieser Tendenz folgt – mit Sicherheit unbeabsichtigt – auch das vorliegende Buch, wird darin doch von den Polen als zweitgrößter Opfergruppe nach den Juden in Paneriai (S. 120) gesprochen, während die dort ermordeten sowjetischen Kriegsgefangenen völlig ignoriert werden, obwohl deren Zahl deutlich höher als die der polnischen Opfer war. Wenn man heute diesen Ort des Schreckens besucht, fällt zunächst gar nicht auf, dass hier sowjetische Kriegsgefangene ermordet wurden, denn während fast für jede Opfergruppe größere oder kleinere Denkmäler errichtet wurden, erinnert an die Sowjetsoldaten lediglich ein kleiner Gedenkstein.

Allerdings sind die faktischen Fehler im Buch für die Gesamtbewertung des Bandes nicht wirklich entscheidend, denn es gibt andere Kriterien, die viel wichtiger sind. Vor allem betrifft das die Gesamtkonzeption des Bandes. Ich kenne bis jetzt kein anderes vergleichbares, auch als Reiseführer geeignetes Buch, in dem die Erinnerungskulturen einer Stadt systematisch vorgestellt werden. Die Herausgeber und Autoren haben in sehr kurzer Zeit die wichtigsten Merkmale der Erinnerungskulturen in Vilnius erkannt und sie im Buch überzeugend präsentiert. Ihnen ist es gelungen, die historische Vielstimmigkeit der Stadt zu entdecken. Deswegen gehört diese Arbeit zu den wenigen Büchern, die ich zur Vorbereitung einer Reise nach Vilnius oder als Begleiter während eines Aufenthalts in der Stadt zur Lektüre empfehlen würde.

Alvydas Nikžentaitis, Vilnius

Zitierweise: Alvydas Nikžentaitis über: Vilnius. Geschichte und Gedächtnis einer Stadt zwischen den Kulturen. Hrsg. von Martin Schulze Wessel, Irene Götz und Ekaterina Makhotina. Frankfurt a.M., New York: Campus, 2010. 248 S., 86 Abb. ISBN: 978-3-593-39308-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Nikzentaitis_Schulze_Wessel_Vilnius.html (Datum des Seitenbesuchs)

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