Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012), H. 3, S. 461-462

Verfasst von: Florian Mildenberger

 

Timothy Snyder: Der König der Ukraine. Die geheimen Leben des Wilhelm von Habsburg. Aus dem Amerikanischen von Brigitte Hilzensauer. Wien: Paul Zsolnay Verlag, 2009. 414 S. ISBN: 978-3-552-05478-3.

Nebenlinien regierender und gestürzter Herrscherhäuser werden in der Geschichtsforschung meist wenig beachtet. Ausgeschlossen von der Thronfolge, agieren die „Prinzen von Geblüt“ selten glückhaft. Timothy Snyder hat mit Wilhelm von Habsburg (1895‒1948) eine schillernde Figur wieder entdeckt, die prototypisch für das Verhalten einer ganzen Dynastie steht. Aufgewachsen in Dalmatien, sollte er zunächst gemäß den Vorstellungen seines Vaters Karl Stefan die maritimen Ambitionen der Doppelmonarchie verkörpern, ehe sich dieser als „Pole“ begriff und seinen Sohn mit Brüdern und Schwestern in die nordöstlichen Reichsteile beorderte. Um sich zu emanzipieren, entdeckte Wilhelm die Ukraine für sich und engagierte sich ab der Endphase des Ersten Weltkrieges für die Unabhängigkeit „seines“ zu errichtenden Königreichs. Er lernte die Sprache und nannte sich „Vasyl Vysyvanyi“ (von Habsburg). Weder in die innerukrainischen Machtkämpfe noch in die Fallstricke der Außenpolitik oder gar in die Möglichkeiten und Interessen eines entflammten Nationalismus eingeweiht, dilettierte der junge Erzherzog in den folgenden Jahren im Exil als Schutzpatron eines Landes, in dem ihn keiner kannte. Mahnende Ratschläge der Familie ignorierte er, versuchte sich als Playboy in Paris, was jedoch an Geldmangel scheiterte, und brüskierte manch verbliebenen konservativen Anhänger durch sein Sexualleben.

Von seinen Geldproblemen wurde er schließlich durch seine Brüder erlöst, die ihn mit einer Apanage abfanden. Seine Liquidität erregte nicht nur die plötzliche Aufmerksamkeit der Ex-Kaiserin Zita, sondern auch einer lebensfrohen Französin, die mit einem Komplizen den naiven Erzherzog a. D. finanziell ausplünderte und gesellschaftlich ruinierte. Wieder auf sich allein gestellt, antichambrierte Wilhelm mit allen politischen Lagern rechts der Mitte, ehe er etwa 1941 erkennen musste, dass wirklich niemand in Europa, es sei denn, er war Reporter einer Boulevardzeitung, einen Habsburger als Gallionsfigur benötigte. Seine letzte Lebensrolle als engagierter Agent, Gegner Hitlers und gemäßigter ukrainischer Nationalist machten einige seiner Fehltritte vergessen, doch erst die Entführung durch den sowjetischen Geheimdienst in Wien im August 1947 und sein Tod im Gefängnis ermöglichten es Interessierten, Wilhelm von Habsburgs Leben als Opfergang zu stilisieren. Alsbald jedoch geriet er in Vergessenheit, woran sein ihm in Intimfeindschaft verbundener Neffe Otto nicht ganz unschuldig war.

Die gewinnende Sprache Snyders, gewahrt auch in der Übersetzung, sowie seine Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge leserfreundlich zu präsentieren, können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass er um der besseren Präsentation seines Protagonisten willen dessen angebliche Einzigartigkeit überhöht. Wenn Wilhelm von Habsburg wirklich so auf Selbständigkeit bedacht war, wieso hat er dann nicht den Titel abgelegt, wie es einige seiner Onkel schon vor 1918 getan hatten (z.B. „Leopold Wölfling“)? Und könnte es nicht sein, dass das Lavieren der Nebenlinien des Kaiserhauses bezüglich einer „polnischen“ oder „ukrainischen“ Nationalität und Krone weniger mit Unabhängigkeit gegenüber „Nationalitäten“ und mehr mit Profilierungsdrang und Überlebenswillen auch auf Kosten des Kaisers zusammenhing? Den tiefen Hass der Zeitgenossen auf das Erzhaus, der in allen Teilen der Doppelmonarchie brodelte, scheint Snyder nie wirklich untersucht zu haben. Auch die antisemitischen Exzesse mancher Verbündeter des naiven Erzherzogs werden nur am Rande thematisiert.

Gleichwohl ist Snyders Biographie ein wertvoller Beitrag zur Untersuchung des Denkens der Habsburger am Ende ihrer Macht, zur Familienanalyse und zur Vermischung von Rationalität und Phantasie im Denken derjenigen Mächtigen, die ihre Macht verloren haben. Die Wunschträume Wilhelm von Habsburgs, seine wechselnden Bündnisse und sein Scheitern im realen Leben ähneln fatal dem Verhalten exilierter Diktatoren lateinamerikanischer Bananenrepubliken. Von diesen trennt ihn vor allem sein tragischer, mythenumrankter Tod.

Florian G. Mildenberger, Berlin

Zitierweise: Florian Mildenberger über: Timothy Snyder: Der König der Ukraine. Die geheimen Leben des Wilhelm von Habsburg. Aus dem Amerikanischen von Brigitte Hilzensauer. Wien: Paul Zsolnay Verlag, 2009. ISBN: 978-3-552-05478-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Mildenberger_Snyder_Koenig_der_Ukraine.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2012 by Osteuropa-Institut Regensburg and Florian Mildenberger. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@osteuropa-institut.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.