Henrik Eberle, Matthias Uhl (Hrsg.) Das Buch Hitler. Geheimdossier des NKWD für Josef W. Stalin, zusammengestellt aufgrund der Verhörprotokolle des Persönlichen Adjutanten Hitlers, Otto Günsche, und des Kammerdieners Heinz Linge, Moskau 1948/49. Mit einem Vorwort von Horst Möller. Gustav-Lübbe-Verlag Bergisch-Gladbach 2005. 672 S., Abb. ISBN: 3-7857-2226-5.

Die letzten Wochen Hitlers im Führerbunker faszinieren, und zahlreiche Publikationen, Dokumentarfilme und Fiktionalisierungen haben versucht, die bizarre Welt des Führers kurz vor dem Untergang seiner Welt nachzuzeichnen. Henrik Eberle und Matthias Uhl haben ein Buch zum Thema herausgegeben, das eine neue und merkwürdige Perspektive auf das Dritte Reich bietet. Es handelt sich um das „Buch Hitler“, ein Dossier, das der sowjetische Geheimdienst eigens für Josef Stalin produziert hat. Der sowjetische Diktator hatte ein doppeltes Interesse an diesem Bericht: Einerseits glaubte er die Nachrichten von Hitlers Tod nicht. Er traute den Westmächten zu, Hitler an einem geheimen Ort versteckt zu halten, um ihn gegebenenfalls in einem neuen Feldzug, diesmal im Bündnis mit den Westalliierten, gegen die Sowjetunion loszulassen. Zum anderen war es vermutlich pure Neugier, die Stalin veranlasste, nachzuforschen, wie der deutsche Diktator seine letzten Wochen verbracht hatte und wie er gestorben war. Der Führerbunker wurde untersucht, und die Überreste von Hitlers Leichnam wurden aufgespürt. Ein Teil von Hitlers Schädel wird nach wie vor im Russischen Staatsarchiv aufbewahrt. Lavrentij Berija, das für die Geheimdienste zuständige Mitglied des Politbüros, informierte Stalin persönlich über den Fortgang der Untersuchungen. NKVD-Chef Sergej Krug­lov richtete eine Kommission ein, die nach Augenzeugen fahndete. Genaue Details über die letzten Monate erfuhr der NKVD von zwei Gefangenen, die zum engsten Kreis um Hitler gehört hatten. Hitlers Kammerdiener Heinz Linge und sein persönlicher Adjutant Otto Günsche waren in sowjetische Hände geraten und wurden über mehrere Jahre hinweg in Moskau gefangengehalten und unabhängig voneinander befragt, auch unter Anwendung von Folter. Immer wieder wurden den beiden dieselben Fragen gestellt, die Antworten verglichen und mit bekannten Fakten abgeklärt. Ergebnis ist ein erstaunlich genauer Augenzeugenbericht, der Stalin schließlich am 29. Dezember 1949 vorgelegt wurde. Während die Darstellung der Jahre 1933 bis 1939 relativ knapp gehalten ist und wenig In­teressantes bietet, konnte Günsche intime Ein­blicke über Hitler und seine Umgebung in den Kriegsjahren aus eigener Anschauung geben. Besonders die letzten Wochen und Tage im Führerbunker werden dicht beschrieben. Das Original befindet sich im Archiv des Russischen Präsidenten und ist ausländischen Wissenschaftlern nicht zugänglich. Matthias Uhl, Mitarbeiter des Deutschen Historischen Instituts in Moskau, hat im Rahmen eines Forschungsprojekts des Münchner Instituts für Zeitgeschichte eine Abschrift im Bestand des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion im ehemaligen Parteiarchiv entdeckt, die 1959 Parteichef Chruščev in Auftrag gegeben hatte. Ein russischer Kollege hat dieses Manuskript mit dem Original verglichen und seine Echtheit bestätigt. In der Einleitung und dem ausführlichen Nachwort der Herausgeber wird der Leser ebenso über die Entstehungsgeschichte des „Buches Hitler“ informiert wie über die Editionsgeschichte der vorliegenden Ausgabe. Lingen und Günsche haben nach ihrer Entlassung aus sowjetischer Haft 1955 ihre Geschichte mehrfach wiederholt, aber in dieser Edition ist die zeitnaheste Fassung enthalten, die auf ihren Aussagen in Moskau beruhen. Beide Augenzeugen waren bestrebt, den Wünschen ihrer Befrager möglichst zu entsprechen und haben vermutlich einzelne Episoden ausgeschmückt. Gleichzeitig wurden ihnen von den Verhörenden Worte und Ausdrücke in den Mund gelegt, die mehr sowjetischen Gepflogenheiten als der Wortwahl der Befragten entsprachen. Begriffe wie “Faschistengruß” für den “deutschen Gruß” waren auf den Hauptleser, Stalin, abgestellt. Die Übersetzung durch Helmut Ettinger trägt dem Text als historischem Dokument Rechnung und hat auf Glättungen oder Vereinheitlichungen verzichtet. Uhl und Eberle haben eine wissenschaftliche Edition mit erläuternden Fußnoten, einem umfangreichen Register und Kurzbiographien der wichtigsten Personen vorgelegt, die im Manuskript genannt werden.

Das „Buch Hitler“ birgt keine umwerfenden neuen Erkenntnisse, gibt aber weitgehend Bekanntes auf spezifische Weise wieder. Es handelt sich hier um die erste Rekonstruktion der letzten Wochen und Tage Hitlers im Führerbunker und dokumentiert das Interesse des sowjetischen Diktators an seinem Gegenspieler.

Christoph Mick, Coventry

Zitierweise: Christoph Mick über: Henrik Eberle, Matthias Uhl (Hrsg.) Das Buch Hitler. Geheimdossier des NKWD für Josef W. Stalin, zusammengestellt aufgrund der Verhörprotokolle des Persönlichen Adjutanten Hitlers, Otto Günsche, und des Kammerdieners Heinz Linge, Moskau 1948/49. Mit einem Vorwort von Horst Möller. Gustav-Lübbe-Verlag Bergisch-Gladbach 2005. ISBN: 3-7857-2226-5, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 1, S. 136-137: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Mick_Eberle_Das_Buch_Hitler.html (Datum des Seitenbesuchs)