Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 2

Verfasst von: Stephan Merl

 

Džon Kip, Alter Litvin Ėpocha Iosifa Stalina v Rossii – Stalinism. Sovremennaja istoriografija – Russian and Western Views at the Turn of the Millennium. Moskva: Izdat. Rosspėn, 2009. 327 S. ISBN: 978-5-8243-1115-0.

Die beiden Verfasser dieses Werks, die namhaften Russlandspezialisten John Keep und Alter Litvin, beklagen einleitend den starken Trend in der russischen Öffentlichkeit, Stalin zu rehabilitieren. Mit dem vorliegenden Buch wollen sie dem russischen Leser ermöglichen, sich einen Überblick über die neuere westliche und russische Literatur zum Stalinismus zu verschaffen. Es handelt sich um die teilweise überarbeitete und erweiterte Fassung ihrer 2005 publizierten Studie (Alter Litvin / John Keep Stalinism. Russian and Western Views at the Turn of the Millennium. Routledge, London und New York 2005), die mit Unterstützung des Jelzin-Fonds ins Russische übersetzt wurde. Für den westlichen Leser ist dieser Band nicht zuletzt deshalb von Interesse, weil er auch die zwischen 2004 und 2007 erschienene Literatur zum Stalinismus berücksichtigt. Während Keep diese Literatur jeweils am Ende der bestehenden Kapitel in einem eigenen, nicht näher gekennzeichneten Abschnitt hinzufügt, hat Litvin die Änderungen in seine Kapitel eingearbeitet.

Der Band besteht aus zwei eigenständigen Teilen. Die sieben von Keep verfassten Kapitel behandeln die westliche Historiographie, die fünf von Litvin verfassten die russische, wobei thematische Überschneidungen in Kauf genommen werden. Beide Autoren behandeln den Terror und die Außenpolitik, bedingt auch Stalins politisches Regime. Zusätzlich präsentiert Litvin ausführliche Kapitel zu den Quellen und zur Biographie Stalins, während Keep einen Überblick über die in der westlichen Forschung benutzten Herangehensweisen und Konzepte gibt und auch die Sozialgeschichte, Geschlechterbeziehungen, Alltagsgeschichte sowie Fragen von Identität und Mentalität behandelt.

Das Werk vermittelt einen sehr nützlichen Überblick über die neuen Forschungen zum Stalinismus. Keep referiert ausführlich und sorgfältig praktisch die gesamte im Zeitraum von der Mitte der neunziger Jahre bis 2007 publizierte westliche Literatur, was dem interessierten Leser angesichts der Masse des Materials eine außerordentlich hilfreiche Orientierung gibt. Besonders hervorzuheben ist, dass er die deutschsprachigen Arbeiten gleichrangig mit den englischsprachigen berücksichtigt. Damit verschafft er dem russischen Leser Einblick in Forschungsarbeiten, die ihm normalerweise verschlossen bleiben. Durch die Beschränkung auf die neuere Forschung richtet sich das Buch allerdings vorrangig an Leser, die bereits Grundkenntnisse über den Stalinismus haben und mit den Forschungen bis Anfang der neunziger Jahre vertraut sind. Zuvor erschienene Studien, auch wenn sie bis heute grundlegend für das Verständnis der Epoche Stalins sind, werden nicht erwähnt – ich verweise stellvertretend nur auf die von Berliner und Inkeles/Bauer. Es hängt mit der zeitlichen Eingrenzung auf die letzten Jahre zusammen, dass Keeps einleitendes Kapitel zu den Herangehensweisen an die Interpretation des Stalinismus vor allem der kulturhistorischen Forschung gewidmet ist, während die Ausführungen zu den vorhergehenden Interpretationsrichtungen weniger systematisch und dadurch unvollständig bleiben müssen. Das gilt genauso für seine wirtschaftlichen, sozialen und im traditionellen Sinne politischen Fragen gewidmeten Kapitel, während die Kapitel zu Themenfeldern der Kulturgeschichte geschlossener wirken. Hier finden sich mehr strukturierende Gedanken zum Forschungsstand und eine zusammenfassende Kritik an den Ansätzen (etwa S. 101–112). Keep arbeitet die Bedeutung der postmodernen Ansätze und der neuen Fragen, die sie beleuchten, heraus. Die Öffnung zu kulturhistorischen, konstruktivistischen und das Individuum in den Vordergrund rückenden Interpretationen hat unsere Perspektive heute erweitert. Der Band macht diese Perspektive nun auch dem interessierten russischen Publikum zugänglich. In seiner Wertung der einzelnen westlichen Forschungsbeiträge macht er keinen Hehl aus seiner Skepsis gegenüber allzu weitgehenden Erwartungen an diese Ansätze, weil sie seiner Ansicht nach entweder quellenmäßig nicht greifbar sind oder den Gesamtkontext des Stalinschen Regimes zu sehr ausblenden (u.a. S. 22, 102).

Angesichts der jeweiligen Forschungshistorie zum Stalinismus ist es unabdingbar, dass beide Autoren für ihre Teile unterschiedliche Darstellungsweisen wählen. Es ist erfreulich, dass Keep weniger den Forschungsstand als vielmehr die neueren Forschungsarbeiten in den Vordergrund rückt, wobei er auch Sammelbände und Aufsätze auswertet. Der Wert liegt vor allem in einer komprimierten und nach Sachgesichtspunkten geordneten Zusammenstellung von Inhaltsangaben mit vorsichtiger Wertung, die dem interessierten Leser Orientierung liefert, u.a. hinsichtlich der Forschungsergebnisse mit kulturhistorischem Ansatz. Dadurch wird gelegentlich die Literatur zu einem Thema an unterschiedlichen Stellen behandelt. Am stärksten auseinandergerissen ist die Darstellung zur Hungersnot von 1932/33 (S. 49, 70–71 und 89–90, 168–169). Da er sich die Vorstellung der neuen Arbeiten zum Ziel gesetzt hat, kann man Keep das kaum zum Vorwurf machen. Litvin referiert dagegen keine einzelnen Forschungsansätze, sondern stellt ausgewählte Themen dar. Er ist in der glücklichen Lage, einen systematischen Überblick über die russische Forschung geben zu können, weil die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Stalinismus hier überhaupt erst Anfang der neunziger Jahre einsetzte. So behandelt er die teilweise Vernichtung von Stalins Archivfonds und die Manipulation am Archivmaterial zu Stalins Krankengeschichte. Beachtung verdienen seine Ausführungen zu den Opfern (S. 299–308). Sie benennen ungeschminkt die Ursachen für die heutige Renaissance der Stalin-Verehrung. Bis heute steht nicht nur eine breite öffentliche Diskussion über die Täter und ihre Verantwortung aus, man schreckte nicht einmal davor zurück, den Haupttätern wie Berija, Ežov und Abakumov zu bescheinigen, dass sie Opfer von Terrorurteilen wurden, und sie teilweise zu rehabilitieren. Litvins Darstellung konzentriert sich auf Stalin und den Herrschaftsapparat. Abschließend stellt er fest (S. 321–325), dass das Thema Stalin in Russland aktuell bleibe. Während sich die anderen beiden Diktaturen, Deutschland und Italien, nach ihrer Niederlage im Krieg zu Demokratien entwickelten, gelinge es Russland nicht, sich aus der Übergangsperiode zu lösen. Dabei übt Litvin auch Kritik an den westlichen Revisionisten, die seiner Ansicht nach die Lage in Russland beschönigen, indem sie vom Totalitarismus-Modell abrücken.

Die Herangehensweisen der beiden Autoren spiegeln die fortbestehenden Unterschiede zwischen der russischen und der westlichen Forschung. Die russischen Autoren orientieren sich weiterhin eher an der klassischen Politikgeschichte. Litvin ordnet sie entsprechend „liberalen“ oder „konservativ-restaurativen“ Positionen zu. Wenn sie überhaupt ein theoretisches Konzept benutzen, so beruht dieses auf einem in unseren Augen eher eigenwilligen Verständnis des Totalitarismus-Ansatzes. In Keeps Darstellung nehmen dagegen die zur Interpretation gewählten historischen Konzepte der westlichen Historiker den ihnen gebührenden hervorgehobenen Platz ein. Keep teilt die westlichen Autoren in die Kategorien „Empiristen“ und „Postmodernisten“ ein. Ob diese Unterscheidung sehr sinnvoll ist, lasse ich dahingestellt. In jedem Fall wird deutlich, dass die neueren westlichen Arbeiten ihre Fragestellungen und Arbeitsweisen häufig aus einer Orientierung am „cultural“ oder „anthropological turn“ gewinnen. Zu bedauern ist, dass der Band abweichend von der englischen Ausgabe von 2005 kein Register und kein Literaturverzeichnis enthält. Aufgrund der Erweiterungen in dieser Ausgabe hätte beides aktualisiert werden müssen.

Beiden Autoren gebührt Dank für den enormen Dienst, den sie durch die hier gewählte Form der Präsentation für den Leser erbringen. Der Band eignet sich hervorragend als Nachschlagewerk zur neueren Literatur. Er wertet zurückhaltend und ausgewogen und vermittelt einen wertvollen Überblick über die derzeitigen Forschungsfragen. Er ist auch für deutsche Leser zu empfehlen, die sich einen aktuellen und umfassenden Überblick über die neuere Literatur verschaffen wollen.

Stephan Merl, Bielefeld

Zitierweise: Stephan Merl über: Džon Kip, Alter Litvin Ėpocha Iosifa Stalina v Rossii – Stalinism. Sovremennaja istoriografija – Russian and Western Views at the Turn of the Millennium. Izdat. Rosspėn Moskva 2009. ISBN: 978-5-8243-1115-0., http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Merl_Kip_Litvin_Epocha_Iosifa_Stalina.html (Datum des Seitenbesuchs)

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