Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 2

Verfasst von: Trude Maurer

 

Luise Hirsch: Vom Schtetl in den Hörsaal. Jüdische Frauen und Kulturtransfer. Berlin: Metropol-Verlag, 2010. 400 S., Abb. = minima judaica, 9. ISBN: 978-3-940938-74-9.

Dass unter ‚russischen‘ Studenten im Deutschen Reich im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert die Mehrheit Juden waren (die damit dem numerus clausus im Zarenreich auswichen), ist seit langem bekannt. Ob die sogenannte ‚Ausländerfrage‘ an deutschen Universitäten, die im Wintersemester 1912/13 zu einem geheimen numerus clausus für russische Untertanen an preußischen Universitäten führte, nur ein Euphemismus für die eigentlich gemeinte ‚Judenfrage‘ war, scheint noch nicht endgültig geklärt. Immerhin konnte für einzelne Universitäten die gezielte Bevorzugung von Deutschbalten und Russlanddeutschen, verbunden mit einer Abschreckung von Juden, nachgewiesen werden. Bekannt ist auch der hohe Anteil von Jüdinnen unter den ersten Studentinnen in Deutschland (die noch als Gasthörerinnen, also ohne Immatrikulation, mit Ausnahmegenehmigungen promoviert wurden). Und dass dabei oft Ausländerinnen den deutschen Frauen zuvorkamen, ihnen gewissermaßen den Weg an die Universität bahnten, ist ebenfalls schon häufig festgestellt worden.

Das Verdienst von Luise Hirschs Dissertation besteht darin, zum einen den hohen Anteil von Frauen aus dem Russischen Reich auch unter den Gasthörerinnen und den (in Preußen ab 1908) immatrikulierten Studentinnen nachzuweisen, zum anderen zu erklären, warum ausgerechnet Frauen aus dem als orthodox und wenig akkulturiert geltenden Ostjudentum schon früh studieren und akademische Berufe ergreifen konnten: Sie führten die jüdische Tradition des Lernens und die weit verbreitete Berufstätigkeit der jüdischen Frau weiter (die damit herkömmlich ihrem Mann eine Konzentration auf das religiöse Studium ermöglicht hatte). Trotzdem wäre die Pionierfunktion ohne den russischen Nihilismus mit seiner Vorstellung vom neuen Menschen und der Gleichberechtigung der Geschlechter nicht möglich gewesen: „Erst das zufällige Aufeinandertreffen dieser Faktoren, des russischen Nihilismus und der jüdischen Lernkultur, hat die akademisch gebildete russländisch-jüdische Frau hervorgebracht.“ (S. 84). Die tatsächliche Verbindung erfolgte bei der Lektüre nihilistischer Schriften in jüdischen Lesezirkeln und durch Wiedergabe nihilistischer Positionen zur Frauenfrage in jiddischen Zeitschriften. Bedenkenswert erscheint schließlich auch Hirschs Überlegung, dass im deutschen Judentum das Studium die Mitgift ersetzte: „Der Tochter ein Studium zu finanzieren, war erheblich günstiger, als einen Akademiker als Schwiegersohn ‚einzukaufen‘.“ (S. 201) Wenig Neues dagegen bietet sie zur eigentlichen Studiensituation, der Karriere der Absolventinnen (die sie, mit einzelnen Ausnahmen, ohnehin nur für deutsche Jüdinnen verfolgt) und deren Vertreibung aus Deutschland nach 1933. Hirschs feste und mehrfach wiederholte Überzeugung, dass sich ohne die russisch-jüdischen Studentinnen das Frauenstudium in Deutschland nicht durchgesetzt hätte, weckt jedoch Zweifel:

Denn zum einen stellte für deutsche (christliche wie jüdische) Studentinnen das Stereotyp der (revolutionären) Russin und Jüdin ja gerade ein Hindernis dar, das erst zu überwinden war, wenn man die volle Immatrikulation für Frauen durchsetzen wollte. Zwar erwähnt Hirsch die Abgrenzung dieser Studentinnen von den osteuropäischen Jüdinnen (S. 115, 222f.) und auch die Einschätzung Helene Langes, der Vorkämpferin der Frauenbildung in Deutschland, dass die „schwere Schädigung des Frauenstudiums lediglich durch den Ausschluß der Russinnen“ zu verhindern sei (zitiert S. 222). Doch insgesamt wertet Hirsch das praktische Beispiel der Jüdinnen aus Russland als Grundlage der Argumente für das Frauenstudium (S. 172) und als „entscheidenden Beitrag“ zur Öffnung der Universitäten (S. 173).

Zweitens wirkte auf die tatsächliche Öffnung der Universitäten das Studium anderer Ausländerinnen, insbesondere von Amerikanerinnen, hin, die in ihrem Land schon studiert hatten und zur Weiterqualifikation gezielt zu deutschen Gelehrten kamen (die sie schon deshalb annehmen mussten, um ihren amerikanischen Kollegen, deren Referenzen sie mitbrachten, einen Gefallen zu tun). Zwar erwähnt Hirsch die Amerikanerinnen in einer Fußnote (S. 114 A. 79), aber sie misst ihnen aufgrund ihrer kleineren Zahl nur geringe Bedeutung bei.

Drittens schließlich hatten es Ausländerinnen nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern jeweils leichter als einheimische Frauen, weil sie im allgemeinen keine Berufstätigkeit im Studienland anstrebten und damit auch keine Konkurrenz für die einheimischen Männer darstellten. Dieser relativierende Vergleichspunkt entgeht der Autorin ganz.

Zwar erwähnt auch sie die Verwendung des Stereotyps des Revolutionärs gegen die Studierenden aus dem Russischen Reich, sogar in parlamentarischen Debatten, nicht aber die Aufforderung des preußischen Hochschulreferenten Friedrich Althoff an den Göttinger Mathematiker Felix Klein, mithilfe amerikanischer (!) Studentinnen die Akzeptanz des regulären Frauenstudiums herbeizuführen. Mit der Ausblendung dieser ministeriellen Initiative vernachlässigt Hirsch, ebenso wie mit der völligen Nichtbeachtung der allerersten Generation von Gasthörerinnen und Doktorinnen in den sechziger und siebziger Jahren, wichtige qualitative Aspekte. Immerhin gingen mit diesen Promotionen russische Adlige wie Anna Evreinova (Leipzig 1873), Sof’ja Kovalevskaja und Julija Lermontova (beide Göttingen 1874) und später auch eine deutsche Adlige wie Maria Gräfin von Linden (Tübingen 1895) den von Hirsch angeführten Jüdinnen voraus. Übrigens war Kovalevskaja in Stockholm (1884 ao./1889 o. Prof.) auch die erste Professorin Europas (nicht, wie S. 54 behauptet, die weißrussische Jüdin Anna Tumarkina, die erst 1906 in Bern Titularprofessorin wurde).

Diese Verzerrungen und die daraus resultierende Überschätzung der Bedeutung der osteuropäischen Jüdinnen für die Öffnung der deutschen Universitäten ergeben sich zum Teil daraus, dass Hirsch sich für die Grundlage ihrer quantitativen Aussagen auf die Universität Berlin beschränkt (während sie für die Darstellung der Herkunftsmilieus und Studienverhältnisse vor allem die Erinnerungen von Studentinnen anderer Universitäten, insbesondere auch der Zürcher und Berner, auswertet). Des weiteren hätte diese Überschätzung durch eingehendere Beschäftigung mit der Literatur zur deutschen und russischen Universitätsgeschichte vermieden werden könnten. Zwar findet sich vieles davon im Literaturverzeichnis, doch erwecken zahlreiche Ungenauigkeiten, Irrtümer und Fehler im Detail den Eindruck, dass nicht alle Werke wirklich rezipiert wurden. Neben manchen Titeln zu den Studierenden aus dem Russischen Reich in Deutschland vermisst man bei der Judaistin Hirsch auch einschlägige russischsprachige Literatur, vor allem zur Struktur der Studentenschaft des Russischen Reichs und zu den Frauenhochschulen.

Sofern man diese Einschränkungen bedenkt, ist die – unter gender- und kulturhistorischer Perspektive – gut und klar geschriebene Dissertation durchaus zu empfehlen.

Trude Maurer, Göttingen

Zitierweise: Trude Maurer über: Luise Hirsch: Vom Schtetl in den Hörsaal. Jüdische Frauen und Kulturtransfer. Berlin: Metropol-Verlag, 2010. = minima judaica, 9. ISBN: 978-3-940938-74-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Maurer_Hirsch_Vom_Schtetl_in_den_Hoersaal.html (Datum des Seitenbesuchs)

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