Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 61 (2013), 2, S. 313-315

Verfasst von: Arpine Maniero

 

Axel Meissner: Martin Rades „Christliche Welt“ und Armenien. Bausteine für eine internationale Ethik des Protestantismus. Berlin: Lit, 2010, VIII, 548 S., 2 Ktn. = Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte, 22. ISBN: 978-3-8258-6281-7.

Die Situation der Armenier im Osmanischen Reich und die Entstehung der sogenannten Armenischen Frage wurde oft in der Forschung vor dem Hintergrund des deutschen machtpolitischen Interesses im Orient behandelt. Bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert bemängelten u. a. Paul Rohrbach und Ewald Stier das fehlende Verständnis der deutschen Außenpolitik für die „große Rolle“ der Armenier als Kulturträger im Orient, was z. B. von der russischen Innen- und Außenpolitik längst begriffen worden war und durch den Einfluss auf die armenische Kirche zeitweise erfolgreich umgesetzt wurde. Eine Unterstützung der „rebellierenden“ Armenier hätte allerdings dem Ansehen der deutschen Außenpolitik im Osmanischen Reich zu großen Schaden zugefügt. Jeglicher Versuch, die deutsche Öffentlichkeit für die Armenische Frage zu sensibilisieren, war daher eine außerordentlich schwere Aufgabe, ja ging in mancher Hinsicht gar mit dem Vorwurf des Landesverrates einher.

Auch die deutsche Presse war im Einklang mit der höchstpolitischen Empfehlung, in der Armenischen Frage am besten Schweigen zu bewahren, mehr als zurückhaltend bzw. sie zeichnete das verzerrte Bild einer von den rebellierenden Armeniern selbst verschuldeten schwierigen Situation. Die häufig sehr negative und abstoßende Darstellung der Armenier als skrupellose Kaufleute war ebenfalls im Zusammenhang mit dieser Politik der bewussten Nichteinmischung zu sehen.

Dass die deutsche Presse in den frühen neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts, lange bevor Johannes Lepsius die breite deutsche Öffentlichkeit über die Christenverfolgungen im Osmanischen Reich informierte, dennoch regelmäßig Nachrichten über die Situation der Armenier druckte, wird ausführlich im vorliegenden Buch behandelt. Auch wenn der Autor hierbei keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, gelingt ihm dennoch ein bemerkenswerter Einblick in die deutsche Presselandschaft um die Jahrhundertwende. Besonders hervorzuheben ist die gründliche Auswertung der zumindest hinsichtlich der Armenischen Frage weitgehend unberücksichtigten christlich-kirchlichen Blätter wie der „Sonntagsklänge“. Überdies ist eine beachtliche Menge an Quellenmaterial aus den Archiven evangelischer Landeskirchen sowie die Korrespondenz der armenischen Theologen aus dem Handschriftenarchiv in Eriwan in die Arbeit eingeflossen.

In drei großen Themenbereichen untersucht Axel Meißner die Armenische Frage, die deutsche Hilfsarbeit für die Armenier zwischen 1896 und 1942 sowie die Tätigkeit des „Notwendigen Liebeswerks“, eines Studienfonds zur Unterstützung der armenischen Theologiestudenten, auf der Grundlage der von Martin Rade herausgegebenen Zeitschrift „Die Christliche Welt“. Vor allem im letzten Kapitel wird auch die Reform der armenischen Kirche im Lichte des deutsch-armenischen theologischen Dialogs behandelt.

Leider gelangt der Autor zumindest in der Schilderung der Armenischen Frage und deren Entwicklung zu einem „diplomatischen Schauspiel“ der europäischen Politik sowie in der Bewertung der späteren Verfolgungen bis zum schicksalhaften Jahr 1915 als einer radikalen Reaktion des Osmanischen Reiches und der Jungtürkischen Regierung zu keinen grundlegend neuen Erkenntnissen.

Durchaus gelungen ist dagegen der Versuch, Rades Wirkung in der Armenischen Frage im Zusammenhang mit seinen Ansichten über Religion und christliche Moral sowie mit seinem Verständnis der politischen Ethik des Protestantismus darzustellen. Das Engagement von Martin Rade war zweifelsohne seinen christlich-ethischen Vorstellungen verpflichtet, wenngleich es ihm im Laufe seiner Tätigkeit nicht immer gelang, die politischen und religiösen Aspekte auseinanderzuhalten. Während er am Anfang noch seiner „christlichen und menschlichen Barmherzigkeitspflicht“ (S. 68) nachzukommen suchte, sollte er später einsehen, dass der Grundsatz, die politischen Angelegenheiten den Politikern zu überlassen, nicht länger durchsetzbar war. Er musste eingestehen, dass „[…] mit den Mitteln der spendenden Barmherzigkeit den Armeniern nicht zu helfen ist.“ (S. 83).

Gerade um den Bezug zwischen dem Engagement der deutschen liberalen Theologen in der Armenische Frage und ihren christlichen Überzeugungen herzustellen, sieht sich der Autor gezwungen, ausführliche und das Thema nur mittelbar betreffende biographische Exkurse zu machen, die die Zusammenhänge oft schwer nachvollziehbar und diese ansonsten sehr bemerkenswerte Arbeit etwas langatmig machen.

Kleine Fehler tauchen zudem im dritten Teil der Arbeit auf und betreffen vor allem die Situation der armenischen Studenten in Deutschland, wenngleich sich diese Fehleinschätzungen mittlerweile in der Forschung etabliert haben und von Axel Meißner nur wiederholt werden. Es geht beispielsweise um die angebliche Gründung des Armenisch-Akademischen Vereins zu Leipzig im Jahr 1860, die den Autor zu der falschen Annahme verführt, es habe an den deutschen Hochschulen bereits vorher eine größere Anzahl armenischer Studenten gegeben: „[… D]ie steigende Zahl armenischer Studenten fand in der Gründung des Armenisch Akademischen Vereines 1860 in Leipzig sichtbaren Ausdruck“ (S. 341). In Wirklichkeit wurde dieser Verein allem Anschein nach erst im Jahr 1885 gegründet. Ohne einen Hinweis auf einschlägige Quellen erscheint zudem die Behauptung in Fußnote 560 nicht nachvollziehbar, dass „1921 schon wieder etwa 50 armenische Studenten anderer Fakultäten an deutschen Hochschulen studierten“.

Sehr richtig bemerkt der Autor, dass die Leistung von Martin Rade und seiner Zeitschrift für das „sterbende Volk der Armenier“, vor allem aber die Existenz des sich um diese Zeitschrift bildenden Freundeskreises, bisher weitgehend unberücksichtigt geblieben sind. Mehr noch, die historische Forschung hat es versäumt, neben Johannes Lepsius die Tätigkeit anderer engagierter Freunde des armenischen Volkes gebührend zu würdigen. Vor allem in der armenischen Geschichtsschreibung stellt dieses nicht nur eine große Lücke dar; die Namen von Martin Rade, Ewald Stier, Adolf von Harnack, Paul Rohrbach, Friedrich Loofs, einst in den armenischen, vor allem theologischen Kreisen so wohl bekannt, würden den meisten armenischen Forschern heute kaum mehr etwas sagen. Gerade in dieser Hinsicht ist das Buch von Axel Meißner ein Meilenstein in der Erforschung der deutschen Unterstützung für die Armenier und der Stellung der armenischen Kirche vor dem Hintergrund der so notwendigen grundlegenden Reformen.

Arpine Maniero, München

Zitierweise: Arpine Maniero über: Axel Meißner: Martin Rades „Christliche Welt“ und Armenien. Bausteine für eine internationale Ethik des Protestantismus. Berlin: Lit, 2010, VIII, 548 S., 2 Ktn. = Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte, 22. ISBN: 978-3-8258-6281-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Maniero_Meissner_Martin_Rades_Christliche_Welt.html (Datum des Seitenbesuchs)

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