Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 3

Verfasst von: Ekaterina Makhotina

 

Elena Ju. Zubkova: Pribaltika i Kreml’. 1940–1953 [Das Baltikum und der Kreml’. 1940–1953]. Moskva: Rosspėn, 2008. 351 S., Tab. = Istorija stalinizma. ISBN: 978-5-8243-0909-6.

Die hier anzuzeigende Monographie ist eine in mehrererlei Hinsicht erfreuliche Publikation: Zum einen kann sie von einem nicht-spezialisierten Leser mit Spannung gelesen werden, zum anderen schließt sie eine Forschungslücke zu Stalins Politik in der „baltischen Frage“ in den Jahren 1939 bis 1953. Jemand, der des emotionalisierenden und politisierenden Untertones sowie der Schwarz-Weiß-Dichotomie in den meisten aktuellen Publikationen zum selben Thema müde ist, erfreut sich insbesondere an Zubkovas gründlicher, quellengestützter Studie, die den Grundstein für die Historisierung der baltisch-sowjetischen Beziehungen im 20. Jahrhundert legen kann. Denn seit Mitte der neunziger Jahre stehen Russland und die baltischen Staaten mit ihren geschichtspolitisch vermittelten Vergangenheitsbildern in einem sich scheinbar immer weiter vertiefenden Dissens. Es sind nicht nur die gegensätzlichen Akzente im öffentlichen Mainstream, auch die sich der Historikerzunft zugehörig zählenden Autoren scheinen aneinander vorbeizuschreiben: Betrachten die litauischen, lettischen und estnischen Historiker die Sowjetzeit aus dem Blickwinkel der Gewaltgeschichte, geht es den russischen Kollegen um die Aufklärung der Kollaboration der Einheimischen mit den Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkrieges (siehe z.B. Pribaltika pod znakom svastiki 1941–1945. Sbornik dokumentov. Moskva 2009; Mi­cha­il Krysin: Pribaltijskij fašizm. Istorija i sovremennost’. Moskva 2007; Jurij Eme­ljanov: Pribaltika. Počemu oni ne ljubjat bronzovogo Soldata? Moskva 2007). Mit vollem Recht kann Zubkovas Arbeit neben dem 2006 erschienenen, aus der Arbeit der russisch-litauischen Historikerkommission „SSSR i Litva v gody Vtoroj miro­voj vojny“ hervorgegangenen Sammelband (A. Kasparavicius, Č. Laurina­vi­cius, N. Lebedeva [Hrsg.]: SSSR i Litva v gody Vtoroj Mirovoj Vojny. T. 1.: SSSR i Li­tovskaja respublika (mart 1939 – avgust 1940 gg.) Sbornik dokumentov. Vilnius 2006) als erfreuliche Ausnahme bewertet werden.

Die Autorin, bekannt für ihre Forschungen zum späten Stalinismus und zur Tauwetter-Periode, setzte sich zum Ziel, die Geschichte des Entscheidungsfindungsprozesses, der schließlich zur Sowjetisierung des Baltikums führte, aus der Moskauer Perspektive zu schreiben (S. 10). Die Logik des stalinschen Apparats in Bezug auf die baltische Region nimmt sie anhand vielfältiger Archivalien unter die Lupe: Als Quellenkorpus dienen hier zum einen Parteidokumente (Bestände des Politbüros, des Orgbüros, des Sekretariats des ZK VKP(b) – KPdSU), zum anderen die Dokumente der sowjetischen Exekutive (Bestände des Rates der Volkskommissare, des NKVD-MVD und des Finanzministeriums). Während einige der verwendeten Quellen bereits im 1990 in Moskau erschienenen Quellenband „Polpredy soobščajut … Sbornik doku­mentov ob otnošenijach SSSR s Latviej, Litvoj i Ėstoniej. Avgust 1939 – avgust 1940“ veröffentlicht wurden, macht die Verfasserin die meisten Politbüro-Dokumente zum ersten Mal der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich. Durch ebendiese Dokumente gelingt der Autorin eine aufschlussreiche Rekonstruktion der Zielsetzungen und Entscheidungsprozesse des Kreml’s gegenüber den nach 1918 unabhängigen Staaten sowie des situationsbedingten Politikwandels. Mithilfe ihrer Quellen kann sie auch ihre These bekräftigen, dass die Sowjetisierung des Baltikums, „eines der ambitioniertesten Projekte Stalins“, fehlgeschlagen ist. Dafür, dass es eine „befriedete, aber keine loyale Region“ (S. 344) wurde, sei, so Zubkova, nicht zuletzt die Eigenart des „baltischen Problems“ verantwortlich, also die Faktoren, die sie in der Einleitung benennt und in weiteren sechs Kapiteln aufschlüsselt.

Aus dem Überblick über die vorsowjetische Geschichte im ersten Kapitel wird die westeuropäische kulturelle Orientierung der Region und die Bedeutsamkeit der nationalen Bewegungen deutlich – die ersten Symptome dafür, dass das Baltikum zur „Problemzone Moskaus“ werden sollte. Im zweiten Kapitel zum „langen Jahr 1940“ vom August 1939 bis Juni 1941 argumentiert die Verfasserin, dass die stalinsche „Technologie des Verschlingens“ mehr durch die angespannte politische Lage in Europa am Vorabend des Zweiten Weltkrieges als durch den vorrevolutionären Status des Baltikums als Teil des Imperiums beeinflusst wurde. Sie kommt zur Einsicht, dass es zunächst gar keine Absicht der Eingliederung des Baltikums in die UdSSR gab: Zwar wollte der Kreml’ die östlichen Ostseegebiete kontrollieren und beeinflussen, der Weg dahin war allerdings noch nicht gezeichnet. Eine der Kernaussagen Stalins bezüglich der sowjetischen Politik gegenüber dem Baltikum findet die Verfasserin in dessen Brief an den Komintern-Chef Georgi Dimitrov vom Oktober 1939: „man muss ihr [d.h. der baltischen Staaten; EM] internes Regime und ihre Souveränität bewahren […]. Die Zeit wird kommen, wenn sie es [d.h. die Sowjetisierung; EM] selbst tun werden“. (S. 59) Der These von Natalia Lebedeva (Germanija i prisoedi­nenie Litvy k SSSR, in: Meždunarodnyj krizis 1939–1941 gg.: Ot sovetsko-german­skich dogovorov 1939 g. do napadenija Germanii na SSSR. Materialy mežduna­rod­noj konferencii, organizovannoj Institutom Vseobščej Istorii Rossijskoj Akademii Nauk, Universitetom Latvii, Institutom Sovremennoj Istorii (Mjunchen), Moskovskim Otdeleniem Fonda im. Konrada Adenauėra, Moskva, 3–4 fevralja 2005 g. Moskva 2006, S. 246–267, S. 254) folgend, sieht Zubkova den 24.–25. Mai 1940 als den Wendepunkt in der stalinschen Politik gegenüber dem Baltikum: Die militärischen Erfolge Hitlers im Westen begründeten die forcierte, gewaltsame In­korporierung des Baltikums in die UdSSR. Wenn im Oktober 1939 Stalin und Molotov bei den Verhandlungen über die militärischen Beistandspakte mit dem baltischen Trio noch die „Zuckerbrot-und-Peitsche“-Diplomatie bevorzugten (S. 53), so war der sowjetische Ton ein halbes Jahr später grob und kompromisslos: Es ging nicht mehr um ‚beeinflussen‘ sondern um ‚herrschen‘. An dieser Stelle kommt die Verfasserin zum heikelsten Punkt im heutigen Disput zwischen Russland und den baltischen Staaten, an welchem bereits viele Lanzen gebrochen wurden, – zur Auseinandersetzung mit dem Okkupations-Begriff. Die Autorin argumentiert gegen die Bezeichnung der gesamten Sowjetzeit als „Okkupation“ (Anführungsstriche so in Zubkovas Text; EM): Die baltischen Staaten hätten zwar ihre Unabhängigkeit verloren und seien Teil der Sowjetunion geworden, gleichwohl seien die Bürger der baltischen Sowjetrepubliken zum einen de facto zu gleichberechtigten Bürgern der Sowjetunion geworden, zum anderen habe die Sowjetmacht hier zu lange gedauert, um als „Okkupation“ bezeichnet werden zu können (S. 98–100). Nach dem Aufbau der politischen Vertikale sei die Sowjetisierung auf der lokalen Ebene weitergeführt worden. Das Herrschaftssystem charakterisiert Zubkova als „kommunistisches Regime sowjetischen Musters“, dessen Folgen für das Baltikum viel schwerwiegender und negativer gewesen seien als die einer (militärischen) „Okkupation“ (S. 101). Zu diesem Vorkriegskapitel ist jedoch kritisch anzumerken, dass das Thema der Massendeportationen vom 14. bis 17. Juni 1941 lediglich eine halbe Seite (S. 126) einnimmt. Die Knappheit ist wahrscheinlich durch die Quellenlage bedingt – hier wären Bestände der Archive in Vilnius, Riga, Tallinn hilfreich gewesen –, eine erklärende Fußnote oder Angaben zu weiterführenden Abhandlungen über die Deportationen wäre dieses tragische Kapitel jedoch wert gewesen.

Im dritten Kapitel zur „mehrfachen Sowjetisierung“ unterscheidet die Autorin zwischen den ersten Nachkriegsjahren – der Zeit der „weichen Sowjetisierung“ 1944–1947 – und der Phase der verstärkten Gewaltanwendung gegen die (vermeintlichen) Gegner des Systems (1947–1953), welche sie in den Kontext der unionsweit eingesetzten „Politik der Schraubentorsion“ stellt. Auch in Stalins Politik gegenüber den Staaten Osteuropas markiert Zubkova zufolge das Jahr 1947 eine Wende zur repressiven Politik. Durchaus ist diese historische Kontextualisierung, die die russisch-baltischen Beziehungen in einen größeren geographischen und politischen Zusammenhang einordnet, eine der besonders hervorzuhebenden Stärken in Zubkovas Monographie.

Im vierten Kapitel schildert Zubkova den antisowjetischen Widerstand, wie er aus Moskauer Perspektive gesehen wurde. Hierbei stützt sie sich auf Dokumente aus dem RGASPI, dem Russischen Staatsarchiv für soziale und politische Geschichte. Zudem bezieht sie die ins Englische übersetzten Forschungsergebnisse der baltischen Autoren mit ein. Es gelingt ihr, die Komplexität und Mehrschichtigkeit des „Krieges nach dem Krieg“ zu zeigen, eines Themas, das heute im Baltikum als heroischer Kampf für die nationale Freiheit aufbereitet wird. Der Verfasserin liegt daran, die Widersprüchlichkeit des Kampfes zwischen der Sowjetmacht und dem aktiven antisowjetischen Widerstand, welchen sie sehr überzeugend als Bürgerkrieg beschreibt, aufzuschlüsseln: Auf beiden Seiten sei es zu Terror, zu Unrecht und zu Übergriffen auf die Zivilbevölkerung gekommen. Im fünften Kapitel untersucht Zubkova die politischen Akteure der ersten Sowjetjahre und fragt nach dem Umfang der Mitwirkung der baltischen Machteliten am Sowjetisierungsprozess. Tatsächlich befanden sie sich auf einem schmalen Pfad zwischen dem eigenen Volk und Moskaus Hand und mussten hier eine fragile Balance halten, die sie mit der Politikformel „national in der Form, sozialistisch im Inhalt“ zu lösen glaubten. Sehr wohl hatte das sowjetische Muster des gegenseitigen Ausstechens und der Denunziation in den internen Machtkämpfen auch im Baltikum Platz. Zubkova schließt mit einem Ausblick auf die Politik gegenüber dem Baltikum nach Stalins Tod 1953. Durch den neuen Kurs Lavrentij Berijas sollte die Politik der Nationalisierung des Kommunismus (vor allem in den Staatssicherheitsstrukturen) verstärkt werden, womit sich wiederum die Neuzugezogenen aus den anderen Teilen der Sowjetunion unzufrieden zeigten. Ungeachtet der Führung durch die „eigenen Kommunisten“ blieb das Sowjetsystem mit seiner ideologisch durchtränkten Geschichts- und Erinnerungskultur bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion in den baltischen Republiken eine fremde, gewaltsam aufgezwungene Macht.

Nicht nur in der supranationalen historischen Einordnung der Politik des Kreml’s gegenüber dem Baltikum, in der überzeugenden, quellengestützten Argumentation und in dem Verzicht auf die Emotionen aus der tagespolitischen Agenda liegt die Stärke von Zubkovas Monographie. Die Verfasserin weist den Mut zu Deutungen auf, die in beiden geschichtspolitischen Regionen als gewagt gelten können: Zum einen beschreibt sie das militärische Vordringen der Sowjetarmee im Frühjahr 1940 als eine „rechtswidrige Aktion“ (S. 99), andererseits unterzieht sie das heroische Epos von den „guten Freiheitskämpfern“, den „Waldbrüdern“, einer kritischen Reflexion.

Leider fehlt dem Buch ein Literatur- und Quellenverzeichnis. Zu weiteren Monita gehören die redaktionellen Mängel im Fußnotenapparat, die vor allem in der Schreibweise der ausländischen Literatur anzutreffen sind. Dessen ungeachtet, kann die Monographie mit gutem Recht als hochinformative Grundlagenlektüre für russische und baltische Forscher der Sowjetzeit empfohlen werden.

Ekaterina Makhotina, München

Zitierweise: Ekaterina Makhotina über: Elena Ju. Zubkova Pribaltika i Kreml’. 1940–1953 [Das Baltikum und der Kreml’. 1940–1953]. Moskva: Rosspėn 2008. = Istorija stalinizma. ISBN: 978-5-8243-0909-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Makhotina_Zubkova_Pribaltika_i_Kreml.html (Datum des Seitenbesuchs)

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