Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 3, S.  453-454

Evgenij M. Balašov Škola v rossijskom obščestve 1917–1927 gg. Stanovlenie „novogo čeloveka“ [Die Schule in der russländischen Gesellschaft 1917–1927. Die Entstehung des „neuen Menschen“]. Izdat. Dmitrij Bulanin S.-Peterburg 2003. 238 S., Tab. ISBN: 5-86007-388-7.

Im Gegensatz zum zarischen Russland, in dem der Schule Erziehungsfunktionen nur in zweiter Linie zukamen, definierte das Sowjetregime Schule als zentralen Hebel für die Schaffung der kommunistischen Gesellschaft und die Formung des „neuen Menschen“. Dieser totale Anspruch traf auf zahlreiche Hindernisse bei der Umsetzung – Hindernisse, die der Sowjetstaat zum Teil selbst schuf. Sie gründeten einerseits in den zählebigen Strukturen und Wertvorstellungen, dem ‚Geist‛ des bisherigen Erziehungssystem, anderseits in den Prozessen der Pauperisierung, der Demoralisierung durch Krieg und Bürgerkrieg, der politischen Polarisierung und Radikalisierung durch Revolution und bolschewistische Machtsicherung, welche Lehrer wie Schüler erfasste, sowie in der Religionsbekämpfung und in der sozialen Stigmatisierung jener Bevölkerungsschichten, die nicht den „Arbeitern“ und „Bauern“ zugerechnet wurden.

E. Balašov versucht in seiner Studie die gesamte Entwicklung des Komplexes ‚Schule‛ im ersten Jahrzehnt nach der Oktoberrevolution nachzuzeichnen. Er geht in separaten Kapiteln ein auf die staatlichen Vorgaben, den historischen Hintergrund, das soziale Umfeld von Schule, Milieu, Familie, Lehrerschaft, Schulleben und Schülerbewusstsein. Die Studie beruht auf der Auswertung zahlreicher Untersuchungen über Kinder, deren Fächerspektrum von der Pädologie (einer 1936 in der UdSSR verbotenen Forschungsrichtung, deren Ergebnisse Balašov nun wieder freilegt), über Soziologie und Sozialpsychologie bis hin zur Medizin reicht. Er zieht Schulaufsätze und Kindertagebücher heran, Aufzeichnungen und Erzählungen, Beschreibungen von Kinderspielen und Beobachtungen von Pädagogen, Memoiren etc.

Im Titel kommt eine Stärke des Buches gar nicht zum Ausdruck, nämlich der methodisch vergleichende Ansatz, der ständig danach fragt: „Was tradierte sich infolge nationaler Erfordernisse und spezifisch russischer Lebensweise weiter? – Was war neu?“. Um dies leisten zu können, geht der Autor zurück bis an die Jahrhundertwende und dehnt seinen Untersuchungszeitraum im Grunde viel weiter aus, als es der Titel angibt. Seine Schilderung der Schüler- und Jugendrevolte bis zur Revolution im Jahr 1905 (S. 42ff.) gehört zu den spannendsten Seiten des Buches. Generell gelingt es dem Autor, seinen Gegenstand lebhaft und subjektbezogen hervortreten zu lassen. Er beschreibt weniger, was mit Lehrern, Schülern und Eltern geschieht, sondern wie sie agieren. Sehr plastisch zeichnet er die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges auf die Schüler nach. Einerseits löste er eine Welle patriotischen Pathos aus und machte aus Kindersoldaten Heldenfiguren – andererseits führte er zu einer Verrohung, die – begleitet vom Niedergang der Familie als Sozialisationsinstanz – spätere gesellschaftliche Fehlentwicklungen ein­leitete. Vor dem Leser entfaltet sich der Alptraum, den der Bürgerkrieg für viele Jugendliche in Russland darstellte. Man erfährt, wie resistent sich die Lehrerschaft lange gegenüber der Sowjetmacht zeigte, die wiederum freilich mit Repressalien, Hungergehältern und ihrem Intellektuellenfeindbild lange keine erfolgversprechende Strategie zur Einbindung fand. Auch die Schülerorganisationen erwiesen sich für die Sowjetmacht als sehr sperrig. Jene Bolschewiki, die ausschließlich auf die „Arbeitsschule“ setzten, assoziierten mit ihnen das Bildungsbürgertum. Die Komsomol-Organisation sah in ihnen eine Konkurrenz. Erst 1920/21 gelang ihre Gleichschaltung und Übernahme. Parallel dazu kam es zum Verbot der Pfadfinder (skautizm), die von den „Jungen Pionieren“ beerbt wurden. Aufschlussreich sind auch die Abschnitte zum Jugendjargon (S. 138ff.), zum religiösen Bewusstsein (S. 143ff.), zu Jugendidolen und Berufswünschen.

Zuweilen wünscht man sich eine kritischere Distanz des Autors zu den Umfrageergebnissen und zu deren Auswertung durch die damaligen Forscherteams. Deren politische Motive und Ambitionen werden nicht thematisiert. Die Bereitschaft bzw. Angst der Respondenten, sich frei zu äußern, müsste grundsätzlich angesprochen werden und nicht nur punktuell und beiläufig (S. 173 FN 202, S. 183). Oft wird nicht einmal vermerkt, ob die Umfrage anonym war. Eine Schwäche des Buches besteht ohne Zweifel darin, dass es auf antiquierten Theorien aufbaut und sich methodisch ungenügend verortet. Es kommt zu keiner Auseinandersetzung mit der aktuellen Forschung, schon gar nicht mit west­lichen Studien zur sowjetischen Jugendkultur, die es ja gibt (etwa Juliane Fürst in England oder Corinna Kuhr-Korolev in Deutschland). Der Autor referiert den Forschungsstand, indem er sowjetische Literatur der 50er Jahre präsentiert. Trotz dieser Einschränkung sei die Lek­türe des Buches sehr empfohlen. Die im Anhang auf über 40 Seiten versammelten Fragebogenauswertungen eignen sich didaktisch auch als Geschichtsquellen für den Unterricht.

Robert Maier, Braunschweig

Zitierweise: Robert Maier über: Evgenij M. Balašov Škola v rossijskom obščestve 1917–1927 gg. Stanovlenie „novogo čeloveka“ [Die Schule in der russländischen Gesellschaft 1917–1927. Die Entstehung des „neuen Menschen“]. Izdat. Dmitrij Bulanin S.-Peterburg 2003. ISBN: 5-86007-388-7, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 3, S. 453-454: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Maier_Balasov_Skola.html (Datum des Seitenbesuchs)