Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

 

Ausgabe: 59 (2011) H. 1

Verfasst von:Peter Oliver Loew

 

Krieg und seine Folgen. Budrich UniPress Leverkusen-Opladen 2008. 252 S., Abb. = Historie. Jahrbuch des Zentrums für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Jg. 1, 2008. ISBN: 978-3-940755-02-5.

Das Ende 2006 in Berlin eröffnete Zentrum für Historische Forschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften (Centrum Badań His­to­rycz­nych Polskiej Akademii Nauk¸ CBH) dokumentiert mit diesem Jahrbuch den Ertrag seiner ersten anderthalb Tätigkeitsjahre. In den zur Eröffnung gehaltenen Grußworten werden die Erwartungen an die von Robert Traba geleitete Einrichtung genannt: Staatspräsident Lech Ka­czyński spricht von dem Ziel, die „Unkenntnis der polnischen Geschichte und Kultur“ zu überwinden, um einen „wahrhaftigen Dialog“ zwischen Deutsch­land und Polen in Gang zu setzen (S. 13), Bundespräsident a.D. Richard von Weizsäcker nennt „die Aufgabe, gemeinsam ein Bild unserer Vergangenheit zu gewinnen“ (S. 18).

Das Jahrbuch „Historie“ nimmt diese Erwartungen ernst. In einem Überblicksartikel skizziert der Lodzer Historiker Rafał Stobiecki neue Entwicklungen in der polnischen Historiographie zu Beginn des 21. Jahrhunderts, die dem Autor zufolge „einen tiefgreifenden Wandel“ durchlebt (S. 37). Dieser sei geprägt vom Einzug der Vergangenheit in Politik, Tourismus und Handel sowie vom Verlust der fachwissenschaftlichen Deutungshoheit. Dennoch sei es in der polnischen Geschichtsschreibung „zu einer Grundsatzdiskussion über die postmoderne Kritik der Geschichtswissenschaft praktisch nicht gekommen“ (S. 43), und den meisten Historikern falle es „ungeheuer schwer […], sich von den Hinterlassenschaften des engen, positivistischen Denkens über die Vergangenheit frei zu machen“ (S. 44). Den historiographischen Außenblick auf Polen skizziert anschließend Ro­bert Żurek mit seinem Bericht über den Ersten Weltkongress der Polenhistoriker in Warschau vom Frühsommer 2007.

Ein großer thematischer Block beschäftigt sich, zurückgehend auf ein Symposium vom Juni 2007, mit der „Historiographie der Opferdiskurse in Polen und Deutschland“. Mateusz Gniaz­dowski stellt in einer längeren, sehr instruktiven Abhandlung die Geschichte der Forschungen und Schätzungen zu den von Deutschen verursachten polnischen Menschenverlusten während des Zweiten Weltkriegs dar. Er schildert die vor großen Quellenproblemen stehenden, oft auch von politischen Vorgaben geprägten Versuche der Opferzählung und zweifelt abschließend daran, ob es überhaupt noch „möglich sein wird, die älteren Forschungen glaubwürdig überprüfen und korrigieren zu können“ (S. 92). Dennoch haben, wie Zbigniew Glu­za anmerkt, am Warschauer KARTA-Zent­rum entsprechende Bemühungen begonnen. Auch auf deutscher Seite waren die Berechnungen der Kriegsverluste stets von politischen Absichten geprägt, nicht zuletzt im Kontext erwarteter Reparationsverhandlungen. Rüdiger Over­mans zeigt die Langlebigkeit falscher Opferangaben auf, bringt Beispiele für die Fehlerhaftigkeit vieler, meist viel zu hoch angesetzter Zahlen und beklagt, dass es bis heute „keine Gesamt­bilanz der deutschen Menschenverluste im Zweiten Weltkrieg“ (S. 95) gebe. Ingo Haar exemplifiziert dies am Beispiel der Vertreibungsverluste, die keineswegs – wie vom Bund der Vertriebenen nach wie vor behauptet – 2 Mio. Deutsche, sondern nicht mehr als 500600 Tausend betrügen.

Zweiter inhaltlicher Schwerpunkt des Bandes sind meist kurze Texte zum Themenkomplex „Geschichte, Geschichtspolitik, Kunst“, die ebenfalls aus einer Veranstaltung des CBH hervorgegangen sind. Angeregt durch die große Debatte um die Rolle von Geschichte für den Staat und sein politisches Handeln und die Rolle des Staates für die Entstehung und Popularisierung historischer Narrative, die in Polen seit einigen Jahren im Gange ist, beschäftigt sich ein gutes Dutzend Autoren mit Aspekten von Geschichts- bzw. Erinnerungspolitik in Deutsch­land und Polen, wobei Stimmen überwiegen, die zur Vorsicht und Zurückhaltung beim politischen Umgang mit Geschichte raten. Kaja Kaźmierska und Andrzej Piotrowski stellen ein Anfang der neunziger Jahre an der Universität Lodz begonnenes Forschungsprojekt „Biographie und nationale Identität“ vor, das mit 53 Zeitzeugengesprächen die Kriegs- und Nachkriegserfahrungen von Polen in einen theoretischen Rahmen stellte. Justyna Balisz geht in einem längeren Beitrag auf die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Kunstwerken dreier polnischer Künstlerinnen und Künstler ein, die jeweils individuelle Strategien zum Umgang mit dieser für das kollektive Gedächtnis in Polen nach wie vor zentralen Erfahrung entwickelt haben.

Ein Gespräch über das „Tabu in der europäischen Gedächtnislandschaft an der Wende zum 21. Jahrhundert“ sowie einige Kurzdarstellungen von Projekten und Aktivitäten des CBH schließen das Jahrbuch ab. Bei aller inhaltlicher Heterogenität zeigt es, welch vitale wissenschaft­liche Einrichtung Berlin mit der Gründung des Zentrums gewonnen hat und wie vielfältig die Impulse sein können, die aus der polnischen Historiographie und aus einer kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte Polens und der deutsch-polnischen Beziehungen in die wissenschaftlichen Diskurse der deutschsprachigen Welt Eingang finden können.

Peter Oliver Loew, Darmstadt

Zitierweise: Peter Oliver Loew über: Krieg und seine Folgen. Budrich UniPress Leverkusen-Opladen 2008. 252 S., Abb. = Historie. Jahrbuch des Zentrums für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Jg. 1, 2008. ISBN: 978-3-940755-02-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Loew_Historie_1_2008_Krieg.html (Datum des Seitenbesuchs)

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