Wolfgang Curilla Die deutsche Ordnungspolizei und der Holocaust im Baltikum und in Weißrussland 1941–1944. Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn [usw.] 2006. 1041 S.

Die Literatur über den Holocaust und die nationalsozialistischen Verbrechen füllt mittlerweile ganze Bibliotheken. Trotzdem wissen wir noch immer längst nicht alles. Das macht das vorliegende Buch eindringlich deutlich. Die lange Zeit unterschätzte Rolle der Ordnungspolizei bei der Judenvernichtung ist spätestens seit der bahnbrechenden und für das Verständnis nach wie vor unverzichtbaren Studie von Browning „Ganz normale Männer“ von 1996 bekannt. Der Jurist und ehemalige Justizsenator der Freien und Hansestadt Hamburg Wolfgang Curilla legt zu diesem Komplex zwar keine neuen Forschungsergebnisse vor, hat aber akribisch – und das ist sein großes Verdienst – zusammengetragen, in welchem Umfang die Ordnungspolizei am Holocaust beteiligt war. Von den geschätzten über 2 Millionen ermordeter Juden in der Sowjetunion in den Grenzen von 1945 dürfte knapp 1 Million oder ca. 46 % von Mitgliedern der Ordnungspolizei umgebracht worden sein; in Polen, das allerdings nur teilweise mit in die Darstellung einbezogen wurde, schätzungsweise über eine halbe Million. Zum Massenmorden im Baltikum und in Weißrussland – andere Teile der Sowjetunion werden abschließend eher am Rande gestreift – waren 20.000 Polizisten eingesetzt. Es waren in der großen Mehrzahl, wie schon Browning festgestellt hat, „ganz normale Männer“, Familienväter, die für dieses schreckliche Wüten nicht ausgebildet, nicht prädisponiert waren, außer dass sie unbedingten Gehorsam leisteten. Erschreckend, wie schnell sie sich an ihre neue, ungewohnte Aufgabe gewöhnten: Nach den mörderischen Dienstgeschäften fanden wie gewohnt Feiern, Beförderungen, Veranstaltungsbesuche statt. Es gab Sadisten, vereinzelt Verweigerer. Nach einem ersten Teil über Grundlagen und Voraussetzungen des Einsatzes, zu lang in Bezug auf den Molotov-Ribbentrop-Pakt, werden im Hauptteil mit über 700 Seiten die Taten der knapp 50 verschiedenen Einheiten so vollständig wie möglich nach dem immer gleichen Schema kurz aufgelistet. Da spricht der Jurist. In einem Extrakapitel wird auch der erhebliche Anteil der Polizeiverbände an der Partisanenbekämpfung dargestellt. An dieser wie auch an anderen Stellen wäre es wünschenswert gewesen, die Fokussierung auf den Holocaust zu ergänzen durch eine Auflistung und Quantifizierung der Verbrechen auch an der nichtjüdischen Bevölkerung. Es schließt sich ein dritter Teil über die Täter an, der zunächst auch auf Angehörige anderer Organisationen wie SD, SS, Wehrmacht etc. verweist. Die Literatur, die Curilla ausgewertet hat, umfasst allein 40 Seiten, hinzu kommen noch 10 Seiten mit staatsanwaltlichen Ermittlungs- und Gerichtsverfahren sowie zahlreiche Quellen, die leider nur in den Anmerkungen erwähnt werden. Die Schilderungen der Zeitzeugen, zumeist den Justizakten entnommen, machen das unvorstellbare, unfassbare Grauen deutlich, das hinter der dürren zeitgenössischen Dokumentation der Taten steht. Herausgekommen ist ein hochinformatives, enzyklopädisches Nachschlagewerk, das man sicherlich nicht von Anfang bis Ende durchlesen wird, das aber für künftige Arbeiten zum Holocaust in Osteuropa unentbehrlich ist und nach weiteren vertieften analytischen Interpretationen ruft. Umfängliche Orts-, Personen- und Einheitenregister ermöglichen einen schnellen Zugriff.

Uwe Liszkowski, Kiel

Zitierweise: Uwe Liszkowski über: Wolfgang Curilla Die deutsche Ordnungspolizei und der Holocaust im Baltikum und in Weißrussland 1941–1944. Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn [usw.] 2006. ISBN: 978-3-506-71787-0, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 3, S. 443-444: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Liszkowski_Curilla_Ordnungspolizei.html (Datum des Seitenbesuchs)