Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 3, S.  439-440

Eva-Maria Stolberg (Hrsg.) Sibirische Völker. Transkulturelle Beziehungen und Identitäten in Nordasien. Lit Verlag Berlin [usw.] 2007. = Periplus 2007 – Jahrbuch für außereuropäische Geschichte, 17. ISBN: 978-3-8258-0639-8.

Das „Periplus Jahrbuch 2007“ ist ein von Eva-Maria Stolberg herausgegebenes Themenheft mit dem Schwerpunkt „Sibirische Völker“. Der Band beginnt mit einer Einleitung der Herausgeberin, die einen Überblick über den Forschungsstand zu den sibirischen Ethnien gibt, in dem sie vehement die russisch dominierte, zentralistische Perspektive auf die Völker Sibiriens beklagt. Es fällt auf, dass sie sich mit dem Standardwerk von James Forsyth (A history of the peoples of Siberia: Russia’s north Asian colony. Cambridge, New York u.a. 1992) kaum auseinandersetzt; die ebenfalls wegweisende Studie von Yuri Slezkine (Arctic Mirrors. Russia and The Small Peoples Of The North. Ithaca, London 1994) wird überhaupt nicht erwähnt.

Nach dieser stark programmatischen Einleitung folgt ein Rekurs über die Eroberung Sibiriens, der ungewollt aufzeigt, wie schwierig es ist, die russozentristische Perspektive zu verlassen. Dies gelingt Stolberg in den Momenten, in denen sie den kasachischen Historiker Murat Ab­dirov als Gegenstimme zitieren kann; ansonsten fällt ihre Darstellung schnell in den herkömmlichen Duktus zurück. Danach folgt der Ausschnitt eines Originaltextes von Eberhard Isbrand Ides, der Sibirien auf seiner Reise nach Peking von 1692–1695 bereiste. Warum gerade dieser Text ausgewählt wurde, bleibt unerklärt.

Anschließend folgen mehrere Fallstudien, als erstes von Juha Janhunen ein Beitrag zum Bärenkult in Nordasien und wie dieser auch über die sibirischen Grenzen hinaus verbreitet war. Danach analysiert Laur Vallikivi die Chris­tianisierung der Nenzen, wobei er zeigt, wie oberflächlich die Christianisierung betrieben wurde und wie erstaunlich pragmatisch die Nenzen mit den Missionaren und ihrer neuen Lehre umgingen. Anschließend beschreibt Gud­run Bucher die Wahrnehmung von Schamanen durch deutsche Gelehrte im 18. Jahrhundert, wobei sie deren kulturelle Vorbehalte deutlich herausstellt und deren Unverständnis verdeutlicht, weswegen etwa Johann Georg Gmelin einige Rituale der Schamanen gründlich missverstand. Es folgt ein weiterer Quellentext und zwar von Baron Gerhard Maydell über seine Erlebnisse mit den Jakuten am Ende des 19. Jahrhunderts.

Einen großen zeitlichen Sprung vollzieht der anschließende Beitrag von Andrei Znamenski, in dem es um den Nationsbildungsprozess im Altai 1904–1922 geht. Er zeigt sehr anschaulich, wie durch zahlreiche Missverständnisse von russischer Seite der Prozess einer nationalen Identitätsbildung im Altai ungewollt beschleunigt wurde. Es folgt ein gleichwertig informativer Beitrag von Dittmar Schorkowitz über die gesellschaftliche und politische Emanzipation der Burjaten (1825–1925). Die Sammlung beschließt eine kommentierte Bibliographie von Eva-Ma­ria Stolberg, die leider keine russischsprachigen Titel berücksichtigt und auch sonst recht lückenhaft ist.

Insgesamt hinterlässt der Band einen sehr heterogenen Eindruck. Neben den wissenschaftlich sehr reichhaltigen Beiträgen von Znamenski und Schorkowitz stehen die Exzerpte aus den Reiseberichten, die weitgehend unkommentiert gelassen werden, so dass der Leser etwas ratlos zurückbleibt und sich die Frage stellt, an welche Lesergruppe sich der Band eigentlich richtet. Dazu kommen noch einige redaktionelle Unsauberkeiten wie falsch gesetzte Fragezeichen, verschluckte Wortanfänge in den Anmerkungen (S. 148) und die Anwendung der neuen Rechtschreibung auch bei dem Originaltext von Maydell, was bizarr wirkt. Außerdem ist nur eine einzige, wenig hilfreiche ethnographische Übersichtskarte (von Forsyth) beigelegt worden, so dass der weniger eingeweihte Leser weiterhin im Dunkeln darüber gelassen wird, wo beispielsweise die Nenzen eigentlich gelebt haben, nämlich nicht nur im Gouvernement Arch­angel’sk, wie im Artikel angegeben, sondern auch am Oberen Ob’.

Kristina Küntzel-Witt, Hamburg

Zitierweise: Kristina Küntzel-Witt über: Eva-Maria Stolberg (Hrsg.) Sibirische Völker. Transkulturelle Beziehungen und Identitäten in Nordasien. Lit Verlag Berlin [usw.] 2007. = Periplus 2007 – Jahrbuch für außereuropäische Geschichte, 17. ISBN: 978-3-8258-0639-8., in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 3, S. 439-440: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Kuentzel-Witt_Stolberg_Sibirische_Voelker.html (Datum des Seitenbesuchs)