Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 3

Verfasst von: Hanna Kozińska-Witt

 

Agnieszka B. Nance: Literary and Cultural Images of a Nation without a State. The Case of Nineteenth-Century Poland. New York [usw.]: Lang, 2008. VI, 174 S. = Austrian Culture, 36. ISBN: 978-0-8204-7866-1.

Dieses Buch geht auf eine Dissertation zurück, die die Verfasserin 2004 in Austin (Texas) verteidigte. Sie ließ sich von dem Werk von Benedict Anderson leiten und untersuchte die Visionen von einem nicht mehr existierenden Staat als einer imaginierten Gemeinschaft. Die sie interessierenden Visionen findet sie sowohl im preußischen als auch im österreichischen Teilungsgebiet bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Besonders wichtig ist der Autorin dabei das vorgestellte, multiethnische Galizien, das sie zum Aufbewahrungsort der polnischen Kultur in der Teilungszeit (the asylum of Polish­ness, the heart of Polish culture, S. 5) und zum multiethnischen Vorreiter des heutigen vereinten Europas stilisiert (S. 7 und 138). Damit gesellt sich Nance zu den Galizienliebhabern, die seit Jahrzehnten trotz der tristen Realität des Kronlands einen positiven Mythos dieser Region entwerfen. Nances Protagonisten sind Literaten: Theodor Fontane im Kontrast zu Gustav Freytag (im Bezug auf die Provinz Posen), Marie von Ebner-Eschenbach und Jan Lam, deren Werke sie gründlich und gewissenhaft analysiert. Sie bemüht sich, literarische Visionen der imaginären Gesellschaften zu entschlüsseln und diese in der historischen Realität zu verankern. Das gezeichnete Bild ist dichotomisch: zum einem ein alter territorial-ständischer Nationsentwurf, der noch in der Gesellschaftsordnung der Ersten Polnischen Republik verankert ist, zum anderen ein emanzipatorisch-demokratischer, der sich jedoch noch nicht ethnisch defi­niert. Nance konzentriert sich zudem auf die Gegenüberstellung der „loya­lis­ti­schen“, eine Verständigung mit den Teilungsmächten anstrebenden und der „selbstständigen“, einen unabhängigen polnischen Staat  herbeiwünschenden Zukunfts­ent­würfe.

Obwohl es freut, dass es jetzt mit diesem Buch eine englische Arbeit gibt, die sich gewissenhaft mit exotischen literarischen Diskursen auseinandersetzt, gibt es einiges zu bemängeln. Nance versucht Imaginationen mit der historischen Realität zu konfrontieren, die sie eine „objektive Geschichte“ nennt (an objective historical work, S. 124). Deswegen sind ihren sehr interessanten literarischen Textanalysen einführende Geschichtskapitel vorangestellt, die großenteils eine Zusammenfassung der in den achtziger und neunziger Jahren verfassten historischen Literatur bieten und so mit der Konvention einer osteuropäischen „big white male history“ verhaftet sind. Diese Einführungen stehen im Kontrast zu den Textanalysen. Während sich die ersten um die militärischen Taten in Namen einer abstrakten Freiheit und nicht weniger abstrakten Unabhängigkeit konzentrieren, liefern die Textanalysen Bilder von einem generationellen und sozialen Wandel samt einem angestrebten Elitenwechsel. Die Autorin verzichtet jedoch bewusst darauf, auf den möglichen Sozialwandel hinzuweisen, da sie in solchem Erklärungsversuch einen Einfluss des „reduktionistischen Modells der kommunistischen Forscher“ vermutet (S. 122), von dem sie sich abgrenzen möchte. In den Einführungen werden zudem wichtige Informationen ausgelassen. So wird z. B. leider nirgendwo in den einführenden Texten erklärt, was man unter dem Begriff einer „politischen Nation“ in der Vormoderne zu verstehen hat, obwohl es für die Argumentation der Verfasserin von Bedeutung wäre.

Besonders schmerzlich und unverständlich (Nance ist Germanistin) ist die vollkommene Ausblendung der deutschen und österreichischen Fachliteratur, die sich schon seit Jahren sowohl mit den Kolonialdiskursen als auch mit den erinnerten Landschaften auseinandersetzt. Nances Kenntnis der „Polenliebe“, die die Liberalen der deutschen Länder umfasste, ist ebenfalls sehr begrenzt, obwohl dieses Thema dank der Popularität der polnischen Oppositionsbewegung schon in den frühen achtziger Jahren erneut wissenschaftlich bearbeitet wurde.

Der interessierte Leser könnte deswegen mit reinem Gewissen auf die Lektüre der Einführungen verzichten,  um sich den Appetit auf die schmackhafte Textanalyse nicht zu verderben.

Hanna Kozińska-Witt, Rostock

Zitierweise: Hanna Kozińska-Witt über: Agnieszka B. Nance Literary and Cultural Images of a Nation without a State. The Case of Nineteenth-Century Poland. Peter Lang Publishing New York [usw.] 2008. VI. = Austrian Culture, 36. ISBN: 978-0-8204-7866-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Kozinska_Witt_Nance_Literary_and_Cultural_Images.html (Datum des Seitenbesuchs)

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