Dittmar Dahlmann, Anke Hilbrenner (Hrsg.) Zwischen großen Erwartungen und bösem Erwachen. Juden, Politik und Antisemitismus in Ost- und Südosteuropa 1918–1945. Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn [usw.] 2007. 340 S.

Dieses Buch ist hervorgegangen aus der Tagung „Die Politik gegenüber den Juden in den neuen Staaten Ostmittel- und Südosteuropas als Vergleichsmoment für Krise und Identitätspolitik in der Zwischenkriegszeit“ (2005). Trotz der Heterogenität der Beiträge wird der Anspruch eingelöst, die Politik gegenüber den Juden vergleichend zu betrachten. In der Einleitung betonen die Herausgeber, primär „politikgeschichtliche Felder wie Gesetzgebung, Innen- und Sicherheitspolitik sowie Steuer- und Wirtschaftspolitik“ ebenso wie „den ‚öffentlichen Diskurs‘ zur ‚jüdischen Frage‘ und die Interaktion zwischen Öffentlichkeit und Politik“ (S. 8) analysieren zu wollen. Verkompliziert wird diese Problemstellung durch die internationale Dimension der „jüdischen Frage“ in den jeweiligen Staaten.

In den einzelnen Beiträgen analysieren die Verfasser die Politik der Mehrheitsgesellschaften gegenüber der jüdischen Minderheit, wobei lediglich ein Autor die „jüdische“ Perspektive berücksichtigt. Beschrieben wird der Prozess der Politisierung der Beziehungen zur jüdischen Gemeinschaft, der ein Element der allgemeinen Politisierung der dortigen Öffentlichkeit war. Erst infolgedessen konnten sowohl „die jüdische Frage“ als auch negative jüdische Stereotypen zum gefragten Instrument im politischen Kampf werden.

Die geographische Dimension des im Titel aufgeführten „Osteuropas“ erlaubte den Herausgebern selbstverständlich die Berücksichtigung der Vorgänge in der Sowjetunion. Aber auch Österreich wird berechtigter Weise der behandelten Großregionen zugerechnet. Den Entwicklungen in den Ländern Litauen, Tschechoslowakei, Sowjetrussland, Jugoslawien (sowie zusätzlich Vadar-Makedonien), Bulgarien, Rumänien und Ungarn wird in der Regel jeweils ein Kapitel gewidmet. Nur die Zweite Polnische Republik wird in zwei Kapiteln thematisiert.

Der Titel wurde dem einführenden, gleichlautenden Aufsatz von Ezra Mendelsohn entnommen. Mendelsohn versucht als Einziger, die Entwicklungen in den genannten Staaten der Großregionen in einem Text zu umreißen. Allerdings lässt der Mendelsohnsche Beitrag erste Zweifel aufkommen, wie man den schönen Titel des Buches tatsächlich verstehen soll. Offensichtlich geht es um jüdische Befindlichkeit im östlichen, südöstlichen und ostmitteleuropäischen Raum. Hier stellt sich die Frage, ob es dort anfangs tatsächlich die großen Erwartungen gab, die später enttäuscht wurden? Der Beitrag von Mendelsohn, in dem aus der jüdischen Perspektive das Ende der multinationalen Reiche beschrieben wird, zeichnet sich durch ein neues Charakteristikum aus: Zwar wird das osteuropäische Judentum auch weiterhin idealtypisch in vier große Lager geteilt – in ein nationales, ein integrationistisches, ein traditionell-religiöses und ein linkes Lager, aber erstmals in der vergleichenden Forschung gesteht man den Integrationisten in diesen Regionen eine große Bedeutung und eine breite Verankerung in den jeweiligen Gesellschaften zu, auch wenn ihre politischen Ziele unerreicht blieben und sie an der Einstellung der Mehrheitsgesellschaft scheiterten.

Aufgrund ihrer Bedeutung als ‚klassisches Beispiel‛ für Antisemitismus im östlichen Europa werden der Zweiten Polnischen Republik zwei Kapitel gewidmet. Einem Großteil der Beiträge dienten die Entwicklungen in Polen als Vergleichsfolie. Angesichts beispielsweise der ungarischen und rumänischen politischen Wirrungen erscheint die Frage berechtigt, worauf sich das ‚Klassische‛ des polnischen Falls gründet. Hier sprechen sich die Herausgeber für weitere vergleichenden Untersuchungen aus. Damit könnten die Entwicklungen innerhalb der Region noch präziser und umfassender analysiert werden.

Einige der Autoren haben den Vergleich der Politik gegenüber den Juden mit der Politik gegenüber den anderen Minderheiten gewagt. Dabei bestätigt sich die These, dass „Juden zu den ersten Opfern der nationalen Homogenisierungsbestrebungen zählten“, früh ausgegrenzt und aus den modernen Gesellschaften exkludiert wurden. Damit wird die Sonderstellung dieser Minderheit, „im Sinne einer Geschichte von Heterogenität und Differenz“ für die ostmit­teleuropäische Region untermauert. Alle Ver­fasser distanzieren sich von der These, der politische Antisemitismus sei in den jeweiligen Ländern hauptsächlich aus dem Ausland importiert worden, und weisen aus diesem Grund auf seine lang andauernden ‚heimischen‛ Traditionen hin. Berücksichtigt wird auch in unterschiedlichem Grade die Rolle der politischen Parteien (und zwar nicht nur der Nationalen), der Staatseliten, der Studentenschaften und der inteligencja sowie der Kirchen und der konfessionellen Öffentlichkeit. Darüber hinaus wird in wenigen Beiträgen die Existenz von politischen und gesellschaftlichen Kräfte, die sich gegen den Antisemitismus stellten, thematisiert.

Die Verfasser gehen differenziert auf die Negativklischees ein, mit denen Juden belegt wurden, so u.a. den Vorwurf des „jüdischen Kommunismus“ und das Bild des „inneren Feindes“. Sie erläutern den intensivierenden Einfluss der neuen politischen Umstände und erklären die Funktion der jüdischen Minderheit innerhalb des jeweiligen Nationscodes. Diese Funktion und nicht etwa den religiös und ökonomisch begründeten Antisemitismus halten sie für ausschlaggebend für die Politik gegenüber den Juden in den neuen Staaten. Obwohl die Weltwirtschaftskrise in der Forschung als ein Hauptfaktor für die sich politisch artikulierende Judenfeindschaft gilt, unterbleibt eine nähere Ausführung.

Hanna Kozińska-Witt, Dresden

Zitierweise: Hanna Kozinska-Witt über: Dittmar Dahlmann, Anke Hilbrenner (Hrsg.): Zwischen grossen Erwartungen und boesem Erwachen. Juden, Politik und Antisemitismus in Ost- und Suedosteuropa 1918–1945. Ferdinand Schoeningh Verlag Paderborn [usw.] 2007. 340 S. ISBN: 978-3-506-75746-3, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 1, S. 131-132: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Kozinska_Witt_Dahlmann_Zwischen_grossen_Erwartungen.html (Datum des Seitenbesuchs)