Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012), H. 3, S. 455-457

Verfasst von: Konstantin Kaminskij

 

„Byt’ russkim po duchu i evropejcem po obrazovaniju“. Universitety Rossijskoj imperii v obrazovatel’nom prostranstve Central’noj i Vostočnoj Evropy XVIII – načala XX v. [„Im Herzen ein Russe, der Bildung nach ein Europäer“. Die Universitäten des Russländischen Reichs im Bildungsraum des mittleren und östlichen Europa vom 18. Jahrhundert bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts]. Otv. sost. Andrej Ju. Andreev. Moskva: Rosspėn, 2009. 335 S., Tab. = Rossija i Evropa. Vek za vekom. ISBN: 978-5-8243-1167-9.

Die Intention des vorliegenden Bandes besteht in erster Linie darin, die historische Entwicklung des Universitätskonzepts in Russland in die europäische Universitätsgeschichte einzuschreiben. So beklagt der Herausgeber in dem einleitenden Artikel, dass in der vierbändigen „Geschichte der Universität in Europa“ von Walter Rüegg dem osteuropäischen und russischen Raum wenig Beachtung geschenkt wurde. Russland werde damit außerhalb der gesamteuropäischen Bildungsgeschichte und quasi am Rande des europäischen Bildungsraums angesiedelt. Den Grund für diese verzerrte Perspektive erkennt der Autor hauptsächlich in dem bereits am Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen und in der sowjetischen Historiographie perpetuierten Postulat von der „autochthonen“ Entwicklung der höheren Bildung in Russland. Ein weiteres wichtiges Ziel des Bandes besteht deshalb auch darin, dem russischen Leser die Ergebnisse der deutschen Universitätsforschung zu präsentieren und ihre Methoden in die nationale Bildungsgeschichtsschreibung zu integrieren.

Eröffnet wird der Sammelband von Andrej Andreevs Artikel, der die konkurrierenden Einflüsse europäischer Bildungskonzepte auf die Herausbildung der russischen Universitätslandschaft beschreibt, wobei die Polarität von akademischer Freiheit und staatlicher Kontrolle im Lauf der Bildungsreformen des 19. Jahrhunderts in Russland eingehend analysiert wird. Der Beitrag von Ljudmila Posochova geht auf die Adaptation und Herausbildung jesuitischer und piaristischer Bildungsinstitutionen im polnischen und ukrainischen Raum im 17. und 18. Jahrhundert ein und untersucht die Verbreitung katholischer Erziehungsmodelle in orthodoxen Kollegien des Russischen Reiches im Kontrast zum Gegenmodell protestantischer Reformuniversitäten. Galina Smagina untersucht das 1748 von Gerhard Friedrich Müller entworfene Projekt eines Regelwerks für die erste russische Universität in St. Petersburg und Jan Kusbers Aufsatz nimmt die Wahrnehmung der russischen Universitätslandschaft durch deutsche Gelehrte im 19. Jahrhundert in den Blick. Während die oben genannten Beiträge jeweils die Verbreitung der Institution der Universität im gesamt­russischen Raum betrachteten, gehen die folgenden drei Artikel auf die Geschichte regionaler Universitätsgründungen ein, die im Zuge der Bildungsreform Alexanders I. (1803‒1804) entstanden. So werden die spezifischen historischen und sozialen Entwicklungszusammenhänge der Bildungsverwaltungszentren in Kazan’ (Elena Viš­len­kova), Charkow (Sergej Posochov) und Vilnius (Anatolij Ivanov) eingehend untersucht.

Den geistesgeschichtlich und institutionenhistorisch angelegten Beiträgen folgt der auf breiter empirischer Basis aufbauende sozialhistorische Abschnitt des Bandes. Tat’jana Kostina untersucht in ihrem Beitrag die ständische Zusammensetzung und den sozialen Status der Professoren an der Universität Kazan’. Evgenij Rostovcev geht in seinem Beitrag auf die sozialen Beziehungen der St. Petersburger Gelehrtenschicht mit den staatlichen Verwaltungsinstitutionen am Anfang des 20. Jahrhunderts ein. In einem größeren, komparatistisch vorgehenden Artikel zeigt Trude Maurer interessante Parallelen zwischen der Geschichte der deutschen Universität in Straßburg und der russischen Universität in Jur’ev (Tartu) am Ende des 19. Jahrhunderts auf. Marina Loskutova untersucht auf beeindruckend breiter Grundlage empirischen Materials die Möglichkeiten sozialer und geographischer Mobilität der Hochschullehrer auf dem Gebiet des Russischen Reiches in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Ljudmila Lapteva erörtert in ihrem Beitrag die Bedeutung der deutschen Universitäten für die Herausbildung der Slavistik im Russland des 19. Jahrhunderts. Die Aufsätze von Dmitrij Cygankov und Aleksandr Antoščenko beleuchten den Einfluss deutscher historischer Schulen auf die Entwicklung der russischen Geschichtswissenschaften. Der Artikel von Oksana Vachromeeva bietet einen umfassenden Überblick über die Entwicklung der Hochschulbildungsprogramme für Frauen in Russland am Ende des 19. Jahrhunderts. Hartmut Rüdiger Peter unternimmt in seinem Text eine aufschlussreiche Analyse der veränderten Wahrnehmung russischer Studenten in Deutschland nach dem Revolutionsjahr 1905. Der abschließende Beitrag von Viktor Karady berichtet über die empirischen Forschungsmethoden und Erfassungskriterien, die bei einem breitangelegten Projekt zur soziologischen Erforschung der Bildungseliten in Ungarn (1867‒1948) angewendet wurden.

Die Beiträge sind in ihrer Gesamtheit stimmig zusammengestellt und sorgfältig ediert worden. Insgesamt vermittelt der gelungene Band vielfältige inhaltliche und methodische Ansätze zum Studium der osteuropäischen und russischen Bildungsgeschichte in Auseinandersetzung mit westeuropäischen Modellen der Bildungsverwaltung und ‑vermittlung. Es wäre zu hoffen, dass die im Sammelband dargebotenen methodologischen Zugänge in nächster Zukunft weiterführende Studien zur Geschichte der osteuropäischen Bildungslandschaft anregen würden.

Konstantin Kaminskij, Konstanz

Zitierweise: Konstantin Kaminskij über: „Byt’ russkim po duchu i evropejcem po obrazovaniju“. Universitety Rossijskoj imperii v obrazovatel’nom prostranstve Central’noj i Vostočnoj Evropy XVIII – načala XX v. [„Der Seele nach Russe sein und der Ausbildung nach Europäer“. Die Universitäten des Russländischen Reichs im Bildungsraum des mittleren und östlichen Europa vom 18. Jahrhundert bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts]. Otv. sost. Andrej Ju. Andreev. Moskva: Rosspėn, 2009. = Rossija i Evropa. Vek za vekom. ISBN: 978-5-8243-1167-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Kaminskij_Andreev_Byt_russkim_po_duchu.html (Datum des Seitenbesuchs)

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