Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 4, S.  595–596

Aleksandr B. Širokorad Četyre tragedii Kryma. Izdat. Veče Moskva 2006. 478 S., 33 Abb. = Voennye tajny Rossii. ISBN: 5-9533-1404-3.

Die Zugehörigkeit der Halbinsel Krim zu der seit 1991 unabhängigen Ukraine ist in der heutigen Russländischen Föderation bei wohl allen Teilen der Bevölkerung gleichermaßen unpopulär. Sie birgt zudem, wie im Herbst 2008 zuletzt im Zusammenhang mit dem georgisch-russischen Krieg um Südossetien deutlich geworden ist, ein gewisses Konfliktpotential in den ohnehin nicht unproblematischen ukrainisch-russischen Beziehungen. Dies hat mehrere Gründe: Zum einen handelt es sich auch bei der Krim als Teil der Ukraine aus russischer Perspektive um sogenanntes Nahes Ausland. Daraus folgt u.a. die Überzeugung, dass der dort wohnenden, überwiegend russischsprachigen Bevölkerung besonderer Schutz seitens Moskaus gebührt. Zum anderen ist die Frage der Rechte der in Sevastopol’ stationierten Teile der russischen Schwarzmeerflotte trotz bilateraler Abkommen zwischen Kiev und Moskau nicht für alle Beteiligten befriedigend geklärt. So wurde die Krim in den Jahren seit dem Auseinanderbrechen der UdSSR wiederholt in die ukrainisch-russischen Zwistigkeiten einbezogen. Ein Weiteres kommt hinzu: Jenseits dieser mehr oder weniger in der jüngsten Vergangenheit wurzelnden Kontroversen dominiert im russischen kollektiven Bewusstsein die Überzeugung, bei der schönen Halbinsel am Nordufer des Schwarzen Meeres handele es sich um ‚eigentlich‛ russisches Territorium, welches eher zufällig in ukrainische Hände geraten sei. So ganz abwegig ist dies nicht, wurde die Krim doch durch die sogenannte Schenkung Chruščevs erst 1954 Teil der – damals freilich sowjetischen – Ukraine. Mit den mittlerweile hinreichend geklärten Motiven des damaligen KP-Chefs hält sich der Autor des hier zu besprechenden Buches jedoch nicht lange auf: Für ihn war dieser schlichtweg betrunken und nicht Herr seiner Sinne.

Auch an anderen Stellen verliert Širokograd zuweilen die Contenance. Um es deutlich zu sagen: Der vorliegende Band ist nicht die leider bis auf den heutigen Tag schmerzlich vermisste Gesamtdarstellung der so wechselvollen Geschichte der Halbinsel, sondern dient – trotz der Aufbereitung teilweiser instruktiver Einzelheiten – einzig der Beweisführung, dass die Krim eigentlich spätestens seit dem 10. Jahrhundert immer irgendwie russisch war; dies ist eine Behauptung, welche sich geschichtswissenschaftlich nicht erhärten lässt. Von der Existenz der auf der Halbinsel Taman (also nicht auf der Krim!) im frühen Mittelalter gegründeten Stadt Tmutorokan schließt er – wie viele russische Autoren vor ihm – auf eine hinlängliche Dominanz von Russen (!) auf der Krim vor der Ankunft der Tataren. Von dieser Annahme ausgehend entfaltet Širokograd seine Argumentation, welche sich aus dem hinlänglich bekannten Arsenal russischer Denkgewohnheiten über die Halbinsel seit dem 18. Jahrhundert bedient (vgl. hierzu Kerstin S. Jobst Die Perle des Imperiums. Der russische Krim-Diskurs im Zarenreich. Konstanz 2007 [= Historische Kulturwissenschaften, 11]): Zur Annexion des in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bereits deutlich geschwächten Krim-Chanats durch Katharina II. habe es keine Alternative gegeben, da die russischen Grenzlandbewohner vor den tatarischen und osmanischen Einfällen hätten geschützt werden müssen; die russische Herrschaft über die Krim und seine muslimischen Bewohner sei milde und weise gewesen; die tatarische Bevölkerung habe sich alles in allem dennoch illoyal gegenüber der russischen bzw. später sowjetischen Herrschaft gezeigt usw. usw. Besonders ausführlich wird folgerichtig die Kollaboration von Krimtataren mit den nationalsozialistischen Besatzern im Zweiten Weltkrieg beschrieben. Dass es diese ohne Zweifel gab, hat zuletzt Norbert Kunz differenziert beschrieben (Norbert Kunz Die Krim unter deutscher Herrschaft 1941–1944. Germanisierungsutopie und Besatzungsrealität. Darmstadt 2005. [= Veröffentlichungen der Forschungsstel­le Ludwigsburg der Universität Stuttgart, 5]); jedoch kann auch in diesem Fall – wie generell – keine Kollektivschuld konstruiert werden, welche die verbrecherischen Deportationen der krimtatarischen Bevölkerungen durch Stalin nach der Rückeroberung der Halbinsel hätten rechtfertigen können. Hier fehlt allerdings der Platz, um all die Fehldeutungen der Darstellung Širokorads aufzuführen. Sie sei allein den Leserinnen und Lesern empfohlen, welche sich ein komplexes Bild über scheinbar zeitlose russische Befindlichkeiten in Bezug auf die Halbinsel machen wollen.

Kerstin S. Jobst, Potsdam/Salzburg

Zitierweise: Kerstin S. Jobst über: Aleksandr B. Širokorad Četyre tragedii Kryma. Izdat. Veče Moskva 2006. = Voennye tajny Rossii. ISBN: 5-9533-1404-3, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 4, S. 595–596: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Jobst_Sirokorad_Cetyre_tragedii_Kryma.html (Datum des Seitenbesuchs)