Andreas Schönle Authenticity and Fiction in the Russian Literary Journey 1790–1840. Harvard University Press Cambridge, MA, London 2000. 296 S. = Russian Research Center Studies, 92.

Reiseberichte als (literatur-)historische Quellen dienen seit vielen Jahren der Erforschung der Kulturbeziehungen zwischen staatlichen und nationalen Entitäten. Oft wird daran die Frage geknüpft, wie ‚weit‘ es die jeweilige produzierende Kultur auf der sich zumeist an westlichen Maßstäben orientierenden ‚Zivilisationsskala‘ im Vergleich mit anderen ‚gebracht‘ hat. Für einen Großteil der europäischen Aufklärer war es beispielsweise evident, dass das Russländische Reich einen eklatanten Nachholbedarf in Sachen Zivilisation habe. Auch Schönle geht in seiner vorliegenden literaturwissenschaftlichen Arbeit von dieser Prämisse aus: „[A] precipitate, complex and incomplete embrace of modernity“ des Zarenreichs spiegelt sich in den im Untersuchungs­zeitraum verfassten russischen Reiseberichten wider, so der Autor.

Zentral ist für ihn die Betrachtung des spezifischen Spannungsverhältnisses zwischen Fiktionalität und Authentizität – als Echtheit, Glaub­würdigkeit. Nach seinem Dafürhalten liegt darin der Grund für den (im Vergleich mit West­europa) verspäteten Siegeszug des literarischen, gattungsübergreifenden Reiseberichts in Russland. Schönle entfaltet den Terminus einer mit „innerer Tiefe“ verbundenen Authentizität vor dem Hintergrund aufklärerischer Konzepte: der Fähigkeit, Gutes vom Bösen mittels einer „inneren Stimme“ zu unterscheiden bzw. eine Kongruenz zwischen dem Sagen und dem Sein des Individuums (hier: des Autors) zu schaffen. Seine z.T. hochkomplexen Überlegungen zur Di­chotomie „Fiktion und Authentizität“ werden unter Einbeziehung mittlerweile auch von der Historiographie diskutierter Referenzen (etwa an M. Foucault, E. W. Said oder H. White) entwickelt. Als Beispiele dienen ihm teils sehr bekannte literarische Reiseberichte, die sowohl von der Geschichts- als auch von der Literaturwissenschaft mannigfach bearbeitet wurden wie diejenigen Karamzins („Pis’ma russkogo pute­šest­vennika“), Radiščevs („Putešestvie iz Peterbur­ga v Moskvu“) oder Puškins („Pute­šest­vie v Arzrum“). Darüber hinaus untersucht er Werke von Autoren, welche entweder als zweitrangig gelten, aber doch ihre Leserschaft fanden (wie etwa V. V. Izmailovs „Putešestvie v poludennuju Rossiju (1800–1802), oder deren Schöpfer sich in anderen Zusammenhängen einen Namen gemacht haben; hierzu zählt z.B. der polnischstämmige Orientalist und Herausgeber des „Azi­at­skij Vestnik“ O. I. Senkovskij. Dessen (er­dach­ter) Baron Brambeus überschreitet die Gren­ze zwischen Fiktion und Realität auf seiner „phantastischen Reise“ wiederholt. Schönle kommt dabei zu einem für Historiker beruhigenden Ergebnis, das den Wert der Gattung Reiseberichte als Quelle bestätigt: In den russischen Reiseberichten in der von ihm untersuchten Zeitspanne war der Anspruch auf Authentizität stärker ausgeprägt als das Streben nach neuen ästhetischen Standards. Allerdings – und hier schüttet Schönle Wasser in den Wein: „travellers saw mostly what they had read or what they wanted to see“. Diese Aussage zielt weniger auf die von den Verfassern zumeist sehr wohl intendierte Abbildung einer (unerreichbaren) „Re­a­lität“ ab, als vielmehr auf die Eigen-Kon­struktion der Person des Autors. Auffällig ist, dass Schönle den individuellen Biographien der Schriftsteller eine höchst ungleichmäßig ver­tei­l­te Aufmerksamkeit schenkt: So wird beispielsweise den persönlichen Motiven für Puškins Reise in den Kaukasus viel Raum gewidmet, während dieses Moment bei anderen kaum eine oder gar keine Rolle spielt. Dieses Ungleichgewicht hätte erklärt werden sollen, auch wenn es vielleicht nur ein Resultat fehlender biographischer Quellen ist. Grundsätzlich ist zu begrüßen, dass bei Schönle der Autor nicht völlig hinter seinen Text zurücktritt oder sogar „tot“ ist, sondern dass er ihn im Gegenteil erklärtermaßen in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellt.

Die vorliegende Arbeit ist besonders für kulturwissenschaftlich arbeitende Historiker von großem Interesse, welche nach den Gründen der z.T. mehr als graduell unterschiedlich verlaufenden russischen Geistesgeschichte im Vergleich mit Westeuropa fragen. Das Fehlen einer Tradition des „pure gaze“ erscheint, wie Schönle anschaulich darlegt, dafür symptomatisch. Die Verfasser russischer literarischer Reiseberichte waren in einer spezifisch russischen Tradition gefangen und hatten ihre spezifische Leserschaft stets im Blick: „[They] sought to catch up on their education and that of their readers, supplying much concrete information in a detached, ‚objective‘ fashion, while at the same time beginning to grapple with the issue of what it means to be a Russian, a representative of a particular social class, and an individual.“

Kerstin S. Jobst, Potsdam/Salzburg

Zitierweise: Kerstin S. Jobst über: Andreas Schönle Authenticity and Fiction in the Russian Literary Journey 1790–1840. Harvard University Press Cambridge, MA, London 2000. = Russian Research Center Studies, 92. ISBN: 0-674-00232-6, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Jobst_Schoenle_Authenticity_DF.html (Datum des Seitenbesuchs)