Julie A. Buckler Mapping St. Petersburg. Imperial Text and Cityshape. Princeton University Press Princeton, Oxford 2005. 364 S., Ktn., Abb.

Auch außerhalb der Russländischen Föderation erinnert man sich noch gut der im Jahr 2003 begangenen Feierlichkeiten anlässlich der Gründung St. Petersburgs dreihundert Jahre zuvor. In russischen wie in westlichen Medien zeigte man sich von der glanzvollen Inszenierung beeindruckt, die mit einem aufwendigen, aber angesichts der langjährigen Versäumnisse völlig unzureichenden Renovierungsprogramm einiger zentraler historischer Bauwerke einhergingen. Dass dabei vielfach eine moderne Version der das Bild Russlands bis in unsere Zeit so prägenden sog. Potemkinschen Dörfer entstanden ist, also nur ein oberflächlicher remont der Fassaden, welcher das „Dahinter“ gnädig verbirgt, hat nicht zuletzt eine innerstädtische Oppositionsbewegung heftig kritisiert. Diese wollte das seitens der Stadt, des Staates und privater Sponsoren geflossene Geld zum einen lieber in soziale Hilfsprojekte investiert sehen. Zum anderen wurde beklagt, dass im Wesentlichen die an den ausgetretenen touristischen Pfaden gelegenen repräsentativen Gebäude und sonstige künstlerische Artefakte vom Jubiläum profitierten, die zahlreichen Paläste und Parks der ehemaligen Hauptstadt nämlich. Das, wenn man so will, eigentliche Petersburg mit den immer noch (bzw. wieder) großen sozialen Problemen oder auch das Piter der Mittelschichten blieb von den teilweise pompösen Feierlichkeiten weitgehend unberührt.

Mit einem kurzen Vergleich der bislang begangenen Jubiläen von 1803, 1903 und eben 2003, die jeweils ein Säkulum im Leben dieser Stadt beschlossen, endet das hier zu besprechende Buch der an der Universität Harvard lehrenden Slavistin. Die Feiern des Jahres 1803 nahmen sich, so Buckler, im Vergleich mit den im selben Jahr stattfindenden Krönungsfeierlichkeiten zu Ehren Alexanders I. noch recht bescheiden aus. 1903 warfen sich die Verantwortlichen schon deutlich mehr ins Zeug: Die Stadt wurde weitläufig geschmückt, und mehrere Hundert Bürger nahmen in historischen Kos­tümen an der Inszenierung teil, welche u.a. „Peter the Great’s much-mythologized biography“ darstellte (S. 247), welche untrennbar mit der Stadt an der Neva verbunden ist. Vor diesem anregenden, eher plaudernd als streng wissenschaftlich vorgetragenen Schlusskapitel entfaltet die Autorin in insgesamt neun Abschnitten (inklusive Vor- und Nachwort) ein besonderes Stadtpanorama. Schwerpunktmäßig wird die Zeit zwischen 1830 und 1890 umfasst, also eine Art literarische Zwischenzeit zwischen den sog. Goldenen und Silbernen Zeitaltern, ohne dass Bezüge zu früheren, späteren und aktuellen Texten fehlen. Als Grundlage dienen ihr dabei überwiegend aber nicht die kanonisierten Petersburg-Texte eines Dostoevskij, Gogol, Belyj oder (und vor allen Dingen) Puškin, der mit seinem erstmals in Auszügen im Jahr 1834 veröffentlichen „Mednyj vsadnik“ den stilbildenden Grundstein für zahllose Variationen der „Petersburger Erzählung“ (so auch der Untertitel des „Ehernen Reiters“) legte. Dadurch, dass sich spätere Autoren auf ältere Umsetzungen wie diese bezogen, diese wiederholten, verfremdeten und erweiterten, wurde St. Petersburg zu einem hinlänglich bekannten Wissenskomplex. Dieser erschloss sich auch denjenigen, die niemals einen Schritt in die Stadt gemacht hatten, sondern diese lesend „erlebten“. Buckler konzentriert sich in ihrer Arbeit auf nichtkanonisierte Texte: Eher unbekannte, ja auch zweitrangige, aber häufig gelesene Petersburg-Texte wie die zu ihrer Zeit so populären literarischen Reiseberichte (Kapitel 3 „Armchair Traveling: Russian Literary Guides to St. Petersburg“) sind beispielsweise zentrale Quellen. Sie zeigt, dass der von Russen für Russen geschriebene „Spaziergang“ (progulka) oder die „Reise“ (putešestvie) in die Kapitale oft durch „a productive discomfort“ (S. 89) gekennzeichnet war. Die von ausländischen Besuchern gepriesene Europäizität der Stadt wirkte auf Russen von außerhalb nämlich oftmals fremd, ja unrussisch. Im vierten Kapitel zu in und über die Stadt kursierenden Legenden und Gerüchten („Stories in Common: Urban Legends in St. Petersburg“) gelingt es ihr nach einer etwas umständlichen sprachgeschichtlichen Herleitung (S. 116f.), eine primär mündlich überlieferte Quellengattung anhand von Presseartikeln und Prosawerken zu verarbeiten. Im Kapitel “Literary Centers and Margins: Palaces, Dachas, Slums, and Industrial Outskirts” unternimmt sie den Versuch, verschiedene Örtlichkeiten unterschiedlichen literarischen Genres zuzuordnen. Dass sie dabei nicht ohne Rückgriffe auf kanonisierte Texte auskommt, etwa wenn sie die Armenviertel Dostoevskij zuordnet, versteht sich von selbst. Dem Petersburg-Bild der Besucher aus der Provinz („Meeting the Middle: Provincial Visitors to St. Petersburg“) und dem „Gedächtnis der Stadt“ („The City’s Memory: Public Graveyards and Textual Repositories“) sind weitere Kapitel gewidmet.

Diese literaturwissenschaftliche Arbeit leidet zumindest aus der Sicht der Historikerin ein wenig darunter, dass die politischen Verwerfungen, vor denen sich die „Petersburg-Texte“ entwickelten, etwas unterbelichtet bleiben. Dennoch ist „Mapping St. Peterburg“ auch für Nicht-Literaturwissenschaftler lesenswert und am Puls auch der historiographischen Trends: Das durch die Semiotiker der Tartuer Schule seit den 1980er Jahren wiederbelebte Interesse an der Stadt an der Neva ist groß; so wurde zuletzt das Bild der Stadt in der Landeskunde wissenschaftlich beleuchtet (Emily D. Johnson How St. Petersburg Learned to Study Itself. The Russian Idea of Kraevedenie. Philadelphia 2006. = Studies of the Harriman Institute). Auch in der deutschsprachigen Osteuropaforschung lebt der Mythos St. Petersburg fort: Gleich zweimal war sie z.B. in den letzten Jahren ein Thema für den in Frankfurt/Oder lehrenden Karl Schlögel (Karl Schlögel Petersburg: Das Laboratorium der Moderne 1909–1921. München, Wien 2002. Karl Schlögel / Frithjof Benjamin Schenk / Mar­kus Ackeret (Hg.): Sankt Petersburg. Schauplätze einer Stadtgeschichte. Frankfurt a. M. 2007), dessen Namen im Literaturverzeichnis be­dauerlicherweise nicht auftaucht, und das, obwohl deutschsprachige Literatur durchaus in Auswahl zur Kenntnis genommen wurde. Dies ist auch deshalb schade, weil Schlögel intensiv mit der für Buckler so zentralen Kategorie des Raumes arbeitet. Narrative Raumentwürfe, Topo­graphien auch als Verhältnis zwischen Kartographie und Literatur sind gegenwärtig überhaupt in der kulturwissenschaftlichen Osteuropaforschung ein Thema, nicht zuletzt, weil sie die gegenseitige Bedingtheit von Zentrum und Peripherie, Imperium und Kolonie aufzeigen können. (Vgl. dazu etwa Susi Frank Imperiale Aneignung. Diskursive Strategien der Kolonisierung Sibiriens durch die russische Kultur (im Druck), sowie Kerstin S. Jobst Die Perle des Imperiums. Der russische Krim-Diskurs im Zarenreich. Konstanz 2007. = Historische Kulturwissenschaft, 11.) Da Buckler Petersburg wiederholt als Kapitale des Imperiums fasst, hätte man sich an dieser Stelle allerdings etwas weitergehende Äußerungen zum spezifischen Charakter des russländischen Vielvölkerreichs gewünscht, welcher gegenwärtig von der historischen Forschung neu bewertet wird. Neben dem Raum spürt die Autorin noch der Mitte nach, welche weniger geographisch als soziologisch definiert wird. Ihre These lautet: „[T]he familiar mythology of St. Petersburg leaves out much of the middle – the ground-level urban experience that is more representative and thus less visible than the extremes of rich and poor” (S. 3). Diese russische urbane Mittelschicht, die auch von der Geschichtswissenschaft untersucht wurde (Harley D. Balzer (Hg.) Russia’s Missing Middle Class. The Professions in Russian History. Armonk 1996), wurde trotz ihrer politischen Machtlosigkeit zumindest kulturell zu einem Faktor.

Insgesamt ist „Mapping St. Petersburg“ eine angenehme, inspirierende Lektüre, der man allerdings einen etwas liebevoller gestalteten Bildteil gewünscht hätte.

Kerstin S. Jobst, Potsdam, Salzburg

Zitierweise: Kerstin S. Jobst über: Julie A. Buckler: Mapping St. Petersburg. Imperial Text and Cityshape. Princeton University Press Princeton, Oxford 2005. ISBN: 0-691-11349-1, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Jobst_Buckler_Mapping_St_Petersburg.html (Datum des Seitenbesuchs)