Jörg Gebhard, Rainer Lindner, Bianka Piet­row-Ennker (Hrsg.) Unternehmer im Russischen Reich. Sozialprofil, Symbolwelten, Integrationsstrategien im 19. und frühen 20. Jahrhundert. fibre Verlag Osnabrück 2006. 430 S.

Der zu besprechende Band begreift die Unternehmer des ausgehenden Zarenreiches erklärtermaßen als „Pioniere der Moderne“ (S. 42). Da er aus einer Tagung des Konstanzer Sonderforschungsbereichs „Norm und Symbol“ hervorgegangen ist, überrascht es nicht, dass er diese These anhand der Symbolwelten russischer und polnischer Unternehmer zu untermauern sucht. Die Produktion dieser Symbolwelten, so die Grundthese, lasse sich als Strategie sozialer Integration begreifen. Nicht die „große Politik“, sondern der urbane Raum sei der Ort gewesen, an dem sich die Unternehmerschaft in der „gesellschaftlichen Mitte“ etabliert habe (S. 422).

Es ist eher selten, dass ein Tagungsband eine so klare inhaltliche These vertritt, und dies, obwohl die einzelnen Beiträge regional wie inhaltlich ein breites Gebiet abdecken. Ihre Spannweite reicht von Lodz (A. Kossert), Warschau (E. Ka­czyńska; M. Siennicka-Kondracka) und Lublin (J. Gebhard) über Weißrussland (A. Kiš­tymaŭ), Sumy und Char’kov (R. Lindner) bis nach Moskau (K. Heller; D. Dahlmann) und Nižnij Novgorod (G. Ul’janova; K. Künt­zel-Witt) und schließt auch einen Exkurs in das habsburgische Galizien mit ein (Ko­ziń­ska-Witt). Inhaltlich werden so unterschiedliche Problemkreise wie unternehmerische Wohltätigkeit, Religiosität, Geschlechterverhältnisse und Reklame (L. Häfner) angesprochen. Da die einzelnen Beiträge von den Herausgebern problemorientiert und prägnant in der Einführung wie im Resümee gebündelt werden, sollen hier nur einige übergreifende Befunde hervorgehoben und zur Diskussion gestellt werden.

Zunächst lassen die Beiträge die Vielfalt in Sozialprofil und kulturellen Praktiken der Unternehmerschaft erkennen, die sich bis in die russische wie die polnische Provinz fortsetzte. Dieses Spezifikum galt mit Blick auf die geringe politische Organisationsfähigkeit der russischen Unternehmerschaft auf Reichsebene lange als soziale Fragmentierung. Hier wird sie nunmehr als regionale Differenzierung verstanden, welche der inneren Vielfalt des Zarenreiches entsprang und es überhaupt erst ermöglichte, dass Unternehmer in Nižnij Novgorod, Sumy oder Lodz die jeweilige städtische Öffentlichkeit symbolisch zu prägen imstande waren. Als nahezu durchgängiger Strang unternehmerischer Symbolwelten lässt sich das karitative Engagement erkennen, sei es im Rahmen betrieblicher Sozialpolitik gegenüber den eigenen Arbeitern, sei es in der Form wohltätiger Armenfürsorge. Mehrere Beiträge verweisen auf die religiöse Verankerung dieses Engagements, wie überhaupt die religiöse Dimension unternehmerischer Ethik ein zentrales Widerlager zu dem negativen Stereotyp des Kaufmanns in der russischen und polnischen Öffentlichkeit darstellte. Der Vergleich von Lodz und Manchester, den A. Kossert vornimmt, gibt in dieser Hinsicht den Grundton an und verweist auf gesamteuropäische Dimensionen des Problems. Wo religiös motivierte Wohltätigkeit hingegen, wie W. Sartor am Beispiel von Louis Dreyfus darlegt, einer traditionalen Grundhaltung entsprang und äußerst diskret geübt wurde, entsteht eine unaufgelöst bleibende Spannung zu der Grundthese des Bandes, Wohltätigkeit als Strategie symbolischer Sozialintegration, als Element der Modernität der Unternehmerschaft zu begreifen. Auch die von L. Häfner untersuchte Werbung lässt sich nur bedingt als „symbolische Strategie unternehmerischer Wirtschaftstätigkeit“ (S. 415) betrachten, diente Werbung doch zunächst primär betriebswirtschaftlichen Interessen und nicht so sehr dem Streben einzelner Unternehmer nach Ansehen und Anerkennung. Wie sich die Spannung zwischen negativen Stereotypen einerseits und der Omnipräsenz von Werbung andererseits interpretieren lässt, bleibt eine Herausforderung, die weit über das Zarenreich hinausreicht. Wo so viel von der Stadt als Ort unternehmerischer Repräsentationsstrategien die Rede ist, überrascht schließlich der allenfalls kursorische Bezug auf die Praktiken und Repräsentationen der Teilhabe an städtischer Selbstverwaltung. Mag sein, dass der kulturwissenschaftliche Zugang des Bandes hier an Grenzen stößt, zumal ein Sammelband immer nur auf ohnehin laufende oder abgeschlossene Forschungen zurückgreifen kann. Der Beitrag von G. Ul’janova zu Nižnij Novgorod zeigt jedoch, dass hier ein ausgesprochen lohnendes Feld weiterer Forschungen zu sozialen Integrationsstrategien der Unternehmerschaft im ausgehenden Zarenreich liegt.

Alles in allem fügen sich die Befunde dieses Bandes geradezu nahtlos in die laufende Neubewertung der Ansätze städtischer Formen von Zivilgesellschaft im ausgehenden Zarenreich ein. Er macht deutlich, dass die ältere These von der sozialen Fragmentierung und Isolierung der Unternehmerschaft kaum zu halten ist. Gerade auch in der russischen und polnischen Provinz rückten erfolgreiche Unternehmer zusehends in die Mitte städtischer Gesellschaft und vermochten dieser auf jeweils unterschiedliche Weise ihre Symbolwelten aufzuprägen, wie B. Pietrow-Ennker bündig zusammenfasst. Unausgelotet bleibt dabei die Frage, was urbane Repräsentation und gesellschaftliche Teilhabe oder auch nur betriebliche Sozialpolitik und karitatives Engagement ihrerseits dazu beitragen konnten, diejenigen sozialen Spannungen aufzufangen, welche durch die Industrialisierung überhaupt erst hervorgerufen worden waren. Kaufleute und Unternehmer mochten sich auf symbolischem Weg erfolgreich in der städtischen Elite etablieren. Fraglich bleibt, ob sich die Stadt als soziales System auf diesem Weg wirklich stabilisieren ließ. Drohten die Repräsentationsstrategien von Unternehmern nicht vielmehr, die soziokulturelle Kluft der „dualen“ Stadt noch weiter zu vertiefen? Dieser zentralen Frage an das ausgehende, vorrevolutionäre Zarenreich sollte auch die Erforschung von Unternehmerschaft und Bürgerlichkeit in Russland nicht aus dem Weg gehen. Ob sie sich dabei schließlich, wie der vorliegende Band es tut, der umstrittenen Begrifflichkeit von Rückständigkeit und Modernisierung bedienen muss, sei dahingestellt. Denn die zentrale These des Bandes, dass sich „Unternehmer im östlichen Europa nur unter erschwerten Bedingungen integrieren konnten“ (S. 407) und sich gerade deshalb in besonderer Weise auf kulturelle, symbolische Integrationsstrategien verwiesen sahen, lässt sich auch ohne dieses Korsett überzeugend vertreten.

Joachim von Puttkamer, Jena

Zitierweise: Joachim von Puttkamer über: Jörg Gebhard, Rainer Lindner, Bianka Pietrow-Ennker (Hrsg.) Unternehmer im Russischen Reich. Sozialprofil, Symbolwelten, Integrationsstrategien im 19. und frühen 20. Jahrhundert. fibre Verlag Osnabrück 2006. 430 S. ISBN: 978-3-938400-03-6, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Joachim-von-Puttkamer-Gebhard-Lindner-Pietrow-Ennker-Unternehmer.html (Datum des Seitenbesuchs)