Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 61 (2013), 3, S. 454-456

Verfasst von: Angelina Jedig

 

Gottfried Schramm: Von Puschkin bis Gorki. Dichterische Wahrnehmungen einer Gesellschaft im Wandel. Freiburg i. Br.: Rombach, 2008. 372 S. = Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae, 159. ISBN: 978-3-7930-9530-9.

Der Freiburger Historiker Gottfried Schramm befragt neun Klassiker der russischen Literatur von Puškin bis Gor’kij nach Freimut und Unfreiheit, Atheismus und Christentum, Reformen und Revolution, nach sozialer Ungleichheit und der gesellschaftlichen Funktion der Dichter. Im einleitenden Kapitel beobachtet er diese Begriffe diachron für Russland und vergleicht sie synchron mit dem literarischen Feld in westeuropäischen Kulturen. „Russland“, so hält Schramm fest, „weicht wieder einmal ab“ (S. 19). Wie viel spezifisch Historisches enthält also die schöne Literatur? (Als Anregung siehe R. Zoll: Gesellschaft in literarischen Texten. Ein Lese- und Arbeitsbuch. 2 Bde. Wiesbaden 2005; K. Waschik: Literatur und Zeitgeschichte in der Sowjetunion. Zum Wandel alternativer Geschichtsentwürfe in der sowjetischen Prosa und Literaturkritik der 60er bis 80er Jahre. Bochum 2000; K. Garber (Hrsg.): Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit. Akten des I. Internationalen Osnabrücker Kongresses zur Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit. Tübingen 1989; W. Lepenies: Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft. München 1985; G. L. Ulmen (Hrsg.): Society and history. Essays in honor of Karl August Wittfogel. Hague 1978; W. M. Todd (Hrsg.): Literature and society in imperial Russia, 1800–1914. Stanford, Calif. 1978; H. Koch: Unsere Literaturgesellschaft. Berlin 1965; sowie zum Zusammenhang von Bildung und Lesekompetenz mit Geschichte und/oder Gesellschaft: J. Brooks: When Russia Learned to Read. Literacy and Popular Literature, 1861–1917. Princeton, N.J 1985; S. Franklin: Writing, Society and Culture in Early Rus, c. 950–1300. Cambridge, New York 2002; M. McCauley, The Emergence of the Modern Russian State, 1855–81. Basingstoke 1988 [Kap. 7: Education and Culture pp. 178–197].)

Mit großem Respekt und einer (leider) altmodisch und selten gewordenen Hochachtung nähert sich Gottfried Schramm den, wie er schreibt, „großen Neun“ der russischen Literatur. Adressat seiner Darstellung ist der interessierte Laienleser (daher wohl auch die Dudenumschrift). Die Auswahl der Autoren und Texte wollen wir – abgesehen von Gončarov – nicht diskutieren. Puškin, Lermontov, Gogol’, Turgenev, Leskov, Tolstoj, Dostoevskij, Čechov und Gor’kij stehen, chronologisch geordnet, im Mittelpunkt der historisch-literarischen Analyse. Leben und Werk verknüpfend, möchte Schramm zeigen, ob „literarische Werke zu der Wirklichkeit stimmen“ (S. 39) und wie „die russischen Meister Wirklichkeit wahrnahmen und in Kunst umsetzten“ (S. 38). Schramm liest die Texte anders, indem er sie dezidiert auf Geschichte bezieht. Dieses andere Lesen ist nicht neu. Schon Petr Kropotkin veröffentlichte „Russian Literature. Ideals and Realities“ (engl. Original 1905, dt. Übersetzung 1906), von Schramm leider nicht zitiert, obwohl sich bei Kropotkin alle besprochenen Autoren finden. (Aktuell zu ‚Lesarten‘ siehe u. a.: H. U. Gumbrecht: Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur. München 2011; J. Hürter / J. Zarusky (Hrsg.): Epos Zeitgeschichte. Romane des 20. Jahrhunderts in zeithistorischer Sicht. 10 Essays für den 100. Band. München 2010; A. Nassehi: Mit dem Taxi durch die Gesellschaft. Soziologische Storys. Hamburg 2010; J. Hörisch: Das Wissen der Literatur. München 2007; T. Kron / U. Schimank (Hrsg.): Die Gesellschaft der Literatur. Opladen 2004.)

Schramm nimmt bewusst gewisse Analogie-Risiken in Kauf: Begriffe wie Autor, Dichter und Erzähler werden kaum voneinander getrennt (S. 128, 137), der Erzähler oder die literarischen Figuren werden mit dem Autor gleichgesetzt, Biographie und Werk werden zu einer Einheit zusammengeführt, und Weltliteratur wird aus der Biographie induziert und manchmal zu biographischen Erfahrungen reduziert. Schramm kritisiert Literatur, die sich nicht aus dem ‚Wissen erster Hand‘ speist („Drückt Gogol aus, was er selbst erfahren hat?“, S. 131; „nur aus zweiter Hand informiert“ sei Tolstoj, S. 319, 314). „Es sind die Zweit- und Drittrangigen, die ohne Scheu von Welten berichten, die sie gar nicht kennen: die Karl Mays oder die Courts-Mahlers“ (S. 336). Zu Recht macht Schramm zwar geltend, dass oftmals erst die Biographie des Autors den Zugang zu seinen Texten öffnet (S. 110, 126–127, 140), doch eine conditio sine qua non für Werkqualität und -verständnis ist sie m. E. nicht.

Die 13 Interpretationskapitel thematisieren neben den literarischen Texten alltagshistorische, soziologische, rechtskundliche, theologische etc. Fragestellungen. Schramms Lektüre ist dabei im besten Wortsinn bodenständig und immer wieder sozialgeschichtlich orientiert. Nicht selten werden durch Schramms „Stresstest“ ‚böse Buben‘ der russischen Literatur (Beamte, Verwalter usw.) rehabilitiert. Der aufmerksame Leser Schramm weist auf einige inhaltliche und logische Fehler in Gogol’s oder Leskovs Texten hin (S. 137–140 Gogol’; S. 205, 207 Leskov; S. 244 Tolstoj). Puškin (Kap. 2 und 3) und Gor’kij (Kap. 13 und 14) werden auf das Konzept „Macht und Geist“ hin geprüft, wohingegen der Zusammenhang von „Intelligenz und Dissens“ an Gewicht verliert. (Nicht alles, was neu erscheint, ist neu. Siehe D. Beyrau: Intelligenz und Dissens. Die russischen Bildungsschichten in der Sowjetunion 1917–1985. Göttingen 1993; J. C. McClelland: Autocrats and Academics. Education, Culture, and Society in Tsarist Russia. Chicago 1979; O. W. Müller: Intelligencija. Untersuchungen zur Geschichte eines politischen Schlagwortes. Frankfurt 1971.) Bei Čechov kritisiert Schramm konstruierte und wenig motivierte Berufe (Wie kann ein Platonov Lehrer sein?, S. 288–289). Die Ausführungen zu Textgenese und Varianten bei Turgenev überfordern den Laien. Der Mensch Turgenev wird aufgrund des schwierigen Verhältnisses zu seiner Mutter einer regelrechten Psychoanalyse unterzogen; aber seine relevante Schrift zur Bauernfrage (Neskol’ko zame­ča­nij o russkom chozjajstve i o russkom krest’janine, 1842) wird nicht erwähnt, obwohl sie Schramms Argumentation unterstützen würde.

Die Einschätzung der Figuren setzt nicht selten eigene, bemerkenswerte Akzente. Karenin ist für Schramm nicht, wie oft verstanden, der herzlose und stumpfe Beamte. Die zwanzig Jahre Altersunterschied zwischen Anna und Karenin seien für die damalige Zeit nicht nur üblich, sondern erwünscht gewesen. Die seinerzeit gängigen Werte dürften nicht als „antiquiert, als steif und unmenschlich“ (S. 240) gewertet werden. Anna werde vom „Kollektiv“ der feinen Gesellschaft nicht geächtet; nicht die Affaire selbst sei problematisch, sondern ihre Demonstration durch Anna. Vronskij hofft auf einen das Paar entlastenden Wandel der gesellschaftlichen Moralvorstellungen. Vronskij und Karenin unterstützen die schwangere Anna, Karenin als juristischer Vater bietet Anna für das Mädchen seinen Namen an. Anna bringt in Karenins Haus ihre Tochter zur Welt, und Vronskij erhält von Karenin die Erlaubnis, bei der nach der Geburt in Lebensgefahr schwebenden Anna bleiben zu dürfen; im Gegensatz zu Anna kann Karenin ein positives Gefühl für die kleine Anna aufbauen.

Eine Überraschung ist die Einordnung Čechovs. Der – zumal in der Form – moderne Autor, der zu den Vorläufern des absurden Theaters gezählt wird, ist für Schramm ein ‚rückwärtsgewandter‘ Dramatiker, der inhaltlich nicht müde werde, das ‚lange Jahrhundert‘ ausklingen zu lassen. Gleichwohl sei er „das Genie aus Taganrog“ (S. 284). Manche solcher Etikettierungen klingen etwas großväterlich (Tolstoj als der „Alte“, der „Meister“, der „Prophet“ von Jasnaja Poljana, S. 256, 284).

Wenn auch unsystematisch, wird doch aus der Zusammenschau der neun Autoren eine deutliche „Typologielastigkeit“ der russischen Literatur offenbar. Es geht weniger um Individuen und Einzelschicksale, sondern um kollektive Typologien (der Adel, die Bauern usw.). Legion sind die korrupten, duckmäuserischen Beamten, die trägen Gutsbesitzer, die adligen Nichtstuer vom Typus lišnij čelovek, die nigilisty und mertvye duši, die moralisch verdorbenen Gutsverwalter, die Vulgär-Materialisten, die weiten Steppenmenschen samt ihrer ‚russischen Seele‘, die Gamlets und Don Quijotes – ad infinitum. Auf der weiblichen Seite, von Schramm unerwähnt, gibt es die Ledi Makbet oder die Daueropposition von femme fatale und femme fragile. Wenig schreibt Schramm zur vielzitierten „starken Heldin“ der russischen Literatur. Der tragisch leidende Mann aber ist dazu verdammt, die immer wieder gleiche bittere Katharsis durchleben zu müssen. So ist ein Onegin ein Pečorin ein Lavreckij ein Vronskij ein Nechljudov …, und jede Stadt kann N.N. heißen. Die andere Seite dieser Medaille ist die erzählerisch schwache Schilderung der „nützlichen Menschen“, die die Plastizität und tragische Existentialität der Anti-Helden nicht erreicht. Umso mehr fällt die Nichtbeachtung Gončarovs auf.

Leider fehlen ein Namensindex sowie ein weiterführendes Literaturverzeichnis. Ansonsten sind die wenigen Fehler bzw. Versehen tolerierbar (vgl. die wenigen falschen Literaturangaben: S. 213, Anm. 2 der verwiesene Autor heißt „Moser“; S. 346, Anm. 12: Nicht auf „Gogols Beitrag zum Mercure de France von 1907“ kann verwiesen werden, sondern auf „Gorkis“; auf S. 351, Anm. 21 muss der Untertitel von Dietrich Beyraus „Intelligenz und Dissens“ lauten „Die russischen Bildungsschichten in der Sowjetunion 1917–1985“). Die Lebensdaten der Autoren zu Kapitelbeginn wären eine wichtige Information gewesen. Der alltagsgeschichtlich orientierte Text berücksichtigt Aspekte wie die starke philosophische Ausrichtung der russischen Autoren, das Psychologische und Theologische nicht. Der Akzent bleibt auf dem Sozialen und Politischen.

Für Nichtspezialisten liegt ein voraussetzungsreicher Text vor, beobachtungsstark, aber manchmal verwirrend durch viele divergierende Schwerpunkte: Literatur, Geschichte, Biographie und Autorenschaft, Wirklichkeitsgehalt, Literaturkritik, Helden-Typologie. Jedoch: „Von Puschkin bis Gorki“ beschreitet einen zielführenden Weg im Versuch, (Sozial-)Geschichte, Kultur und schöne Literatur zusammenzuführen. Er lohnt sich. So gilt nicht nur Nabokovs schöner Satz „A good reader is a re-reader“, sondern auch Schramms Ansatz, Dichtung als ver-dichtete Geschichte aufzufassen.

Angelina Jedig, Bamberg

Zitierweise: Angelina Jedig über: Gottfried Schramm: Von Puschkin bis Gorki. Dichterische Wahrnehmungen einer Gesellschaft im Wandel. Freiburg i. Br.: Rombach, 2008. 372 S. = Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae, 159. ISBN: 978-3-7930-9530-9, http://www.oei-dokumente.de/JGO/Rez/Jedig_Schramm_Von_Puschkin_bis_Gorki.html (Datum des Seitenbesuchs)

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