Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 61 (2013), 3, S. 458-460

Verfasst von: Andrej Januškevič

 

Michail M. Krom: Mež Rus’ju i Litvoj. Pograničnye zemli v sisteme russko-litovskich otnošenij konca XV – pervoj treti XVI v. [Zwischen der Rus’ und Litauen. Grenzterritorien im System der russisch-litauischen Beziehungen gegen Ende des 15. und im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts]. 2-e izd., ispr. i dop. Moskva: Kvadriga, 2010. 318 S., 8 Ktn., 10 Graph., 1 Tab. = Istoričeskie issledovanija. ISBN: 978-5-91791-028-4.

Die erste Auflage der Monographie von Michail Krom erschien bereits im Jahr 1995 und offenbarte beim Fachpublikum und auch bei den historisch interessierten Laien sogleich eine große Nachfrage nach geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen vergleichbarer Art. Fünfzehn Jahre später hat die Publikation keineswegs an Aktualität verloren. Der Grund für das Erscheinen der zweiten Auflage liegt nach Selbstauskunft des Autors sowohl in einer deutlichen Veränderung des Forschungsstandes als auch in der Verbreiterung der Quellenbasis. Gleich vorab sei allerdings angemerkt, dass dies kaum die zentralen Schlussfolgerungen der Monographie beeinflusst hat – im Gegenteil: Durch die neuen Funde und Erkenntnisse wurden die fünfzehn Jahre zuvor formulierten Forschungsergebnisse des Petersburger Historikers sogar nochmals bekräftigt.

Das Buch diskutiert die für die russische Geschichtswissenschaft bedeutsame Frage nach dem Verhältnis zwischen der lokalen Bevölkerung und dem Großfürstentum Moskau, das am Ende des 15. und im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts seine Macht in die östlichen Gebieten des Großfürstentums Litauen ausdehnte. Das in der russischen Historiographie dominierende Postulat vom unerschütterlichen Streben der lokalen Bevölkerung nach „Wiedervereinigung“ mit dem „russischen Staat“ wurde vom Autor einer umfassenden Kritik unterzogen und hat dabei seine argumentative Basis verloren. Die Arbeit von Michail Krom stellt so einen Sonderfall unter den Forschungen, die in Russland veröffentlicht werden, dar. Diese Beobachtung wird noch dadurch bestätigt, dass der Autor die Kritik seiner weißrussischen Kollegen zur Kenntnis genommen hat und in der zweiten Auflage auf die Bezeichnung „westrussische Gebiete“ zugunsten des authentischeren Begriffes „Litauische Rus’“ verzichtet.

Die Arbeit von Michail Krom ist auch heute noch ein ausgezeichnetes Beispiel für eine konzeptionell gestützte Darlegung, die auf einer breiten faktographischen Basis beruht. Die Stichhaltigkeit der Schlussfolgerungen gründet sich auf ein aufmerksames Studium der wissenschaftlichen Arbeiten der Vorgänger, wobei der Verfasser auch mit der westeuropäischen und – was besonders wichtig erscheint – mit der polnischen Historiographie vertraut ist. Bereits der historiographische Überblick beweist die Fähigkeit des Kroms, die Fachliteratur mit Blick auf ihren wissenschaftlichen Ertrag präzise zu charakterisieren und zu bewerten. Ebendies wie auch sein Verständnis des historischen ‚Epochenkontextes‘ verschaffen dem Verfasser bei der Rekonstruktion der historischen Realität eine denkbar große Glaubwürdigkeit. Dank seiner Distanzierung von rein theoretischen Konstruktionen und andererseits seinem Verzicht auf eine rein deskriptive Herangehensweise an die Quellen sowie einem aufmerksamen Blick ‚von innen‘ auf die sich im fürstlichen und städtischen Umfeld abspielenden gesellschaftlichen und politischen Ereignisse ist es dem Verfasser gelungen, die komplexen Faktoren aufzudecken, von denen die Haltungen der unterschiedlichen Schichten der lokalen Bevölkerung in der Auseinandersetzung zwischen Moskau und Wilno abhängig waren.

Das Buch besteht aus zwei Hauptteilen. Im ersten Teil analysiert der Verfasser die Rolle und das Handeln der Fürsten und Fürstentümer in den östlichen Grenzgebieten des Großfürstentums Litauen während der Konfrontation zwischen den Großfürstentümern Moskau und Litauen am Ende des 15. und im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts. Michail Krom gibt eine umfassende Charakteristik der Fürstentümer im Verband des Großfürstentums Litauen während der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und macht deutlich, dass sich die Haltung der in den Grenzgebieten ansässigen orthodoxen Fürsten am Ende des 15. Jahrhunderts offenbar stark von derjenigen während der Kriege zwischen den beiden Großfürstentümern am Anfang des 16. Jahrhunderts unterschied. Ausführlich behandelt wird insbesondere ein so wichtiges Ereignis wie der Glinskij-Aufstand, der vielen russischen und sowjetischen Historikern als unstrittiges und schon klassisches Beispiel der Hinneigung der orthodoxen Bevölkerung des Großfürstentums Litauens zur Moskauer Rus’ galt. Der Verfasser kommt zu dem Schluss, dass nach 1500 eine Veränderung der gesellschaftlichen Situation der Fürsten in der litauischen Rus’ zu konstatieren sei. Die Elite der Fürsten wuchs allmählich mit dem Magnaten-Adel des Großfürstentums Litauen zusammen, während die Masse der Fürsten mit dem polnischen Adel, der Szlachta, verschmolz. Die am weitesten vom herrscherlichen Zentrum entfernten Fürstentümer waren nur schwach in das politische System des Großfürstentums Litauen integriert und entschieden sich – teils willentlich, teils gezwungenermaßen – zugunsten des stärkeren und aktiveren Moskauer Reiches. Die Fürstentümer auf dem Gebiet des heutigen Weißrussland hingegen waren viel enger mit dem politischen Zentrum des Großfürstentums Litauen verbunden und befanden sich unter der Kontrolle und dem Schutz der herrscherlichen Macht. Hier mussten die Fürsten außerdem auf die Interessen entwickelter städtischer Gemeinden Rücksicht nehmen. Der Glinskij-Aufstand und die Kriege zwischen den Großfürstentümern Moskau und Litauen im frühen 16. Jahrhundert zeigten im Ganzen die absolute Loyalität der fürstlichen Schichten zur Regierung von Wilno und ihre Zufriedenheit mit den neuen Privilegien, die sich auf die Zugehörigkeit zum breiten Szlachta-Stand gründete.

Den zweiten Teil seiner Darlegung widmet Michail Krom der Haltung der Städte in der Auseinandersetzung zwischen Moskau und Wilno am Ende des 15. und am Anfang des 16. Jahrhunderts. Der Verfasser kommt zu dem Schluss, dass die Städte, ausgestattet mit ausgeprägten Privilegien in den Bereichen Handel und Selbstverwaltung, gut in die Struktur des Großfürstentums Litauen integriert und sehr an der Erhaltung der vorhandenen Vorteile interessiert waren. Krom unterteilt die Städte nach ihrem faktischem Status in drei Kategorien: erstens fürstliche Kleinstädte in den Grenzgebieten mit einer passiven städtischen Gemeinde, zweitens mittlere Städte, die sich in Privatbesitz befanden oder dem Großfürsten unterstanden und in denen die Stadtbürger für ihre Rechte eintraten, und drittens große privilegierte Städte mit einer entwickelten, von Privilegien profitierenden städtischen Gemeinde. Davon ausgehend kommt der Verfasser zu dem weitreichenden Resümee, dass das Maß an Loyalität der Bürger vom Umfang der ihnen gewährten Privilegien und Rechte abhängig war. Des Weiteren stellt Krom eine direkte Verbindung zwischen dem Status einer Stadt und ihrem Verhalten auf der außenpolitischen Bühne fest. Am überaus vielsagenden Beispiel Smolensk widerlegt er die verbreitete These, die lokale städtische Bevölkerung habe die Moskauer Herrschaft herbeigewünscht. Mehr noch, es gelingt ihm überzeugend zu zeigen, dass die Einwohner von Smolensk den Moskauer Truppen aktiven Widerstand leisteten.

Zum Schluss seiner Monographie analysiert Krom die Strategie der Moskauer Regierung zur Konsolidierung ihrer Macht in den neu erworbenen Gebieten. Auch hier löst er sich von den gewohnten historischen Stereotypen und postuliert nicht wie üblich einen Wunsch der lokalen Bevölkerung nach ‚Wiedervereinigung mit Russland‘, sondern sieht die Moskauer Truppen, die in den Grenzstädten stationiert waren, und die aus den zentralen Regionen des Reichs stammenden Moskauer Dienstadligen, die in den neu gewonnenen Gebieten nun mit Landgütern ausgestattet wurden, als die entscheidenden Stützen der neuen Moskauer Herrschaft an.

Unter allen präsentierten Forschungsergebnissen ist die grundlegende These des Verfassers die, dass „das Verständnis jener Ereignisse nicht in der ethnokonfessionellen, sondern in der gesellschaftlich-politischen Sphäre“ zu suchen sei (S. 33). Kroms Distanzierung von einer auf die ethnische Komponente gestützten Argumentation ermöglicht eine angemessene Entschlüsselung der historischen Realität. Dabei arbeitet er heraus, dass die Haltung der verschiedenen sozialen Gruppen von einem ganz pragmatischen und bodenständigen Interesse an der Erhaltung des materiellen und politischen Status quo bestimmt wurde.

Beachtung verdienen neben dem Text der Monographie auch die Anhänge, etwa die Edition des Privilegs Sigismunds I. an Smolensk aus dem Jahr 1513, sowie die Tabellen, welche die Lebenswege der Bojaren aus Brjansk und Smolensk nach dem Übergang beider Städte unter die Moskauer Herrschaft vergleichend nachverfolgen. Besondere Aufmerksamkeit verdient das äußerst informative kartographische Material, das von dem weißrussischem Forscher Viktor Temušev erstellt wurde.

Resümierend ist zu betonen, dass das Buch von Michail Krom zurecht große Popularität und hohes Ansehen genießt. Nach unserer Meinung resultiert dies vor allem daraus, dass das Werk mit seinem sachlichen und ausgewogenen Ansatz ein Beispiel dafür ist, dass die politische Geschichte Weißrusslands im späten Mittelalter ohne ideologische Vorurteile und hurrapatriotische Klischees geschrieben werden kann.

Andrej Januškevič, Minsk

Zitierweise: Andrej Januškevič über: Michail M. Krom: Mež Rus’ju i Litvoj. Pograničnye zemli v sisteme russko-litovskich otnošenij konca XV – pervoj treti XVI v. [Zwischen der Rus’ und Litauen. Grenzterritorien im System der russisch-litauischen Beziehungen gegen Ende des 15. und im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts]. 2-e izd., ispr. i dop. Moskva: Kvadriga, 2010. 318 S., 8 Ktn., 10 Graph., 1 Tab. = Istoričeskie issledovanija. ISBN: 978-5-91791-028-4, http://www.oei-dokumente.de/JGO/Rez/Januskevic_Krom_Mez_Rusju_i_Litvoj.html (Datum des Seitenbesuchs)

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