Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012) H. 2, S. 263-264

Verfasst von: Edgar Hösch

 

Ralph Tuchtenhagen: Zentralstaat und Provinz im frühneuzeitlichen Nordosteuropa. Wiesbaden: Harrassowitz, 2008. 583 S. = Veröffentlichungen des Nordost-Instituts, 5. ISBN: 978-3-447-05522-7.

Nordosteuropas und die sog. Ostseewelt haben als eine Geschichtslandschaft eigener Prägung in den letzten Jahren in allen Anrainerstaaten der Ostsee eine erhöhte Aufmerksamkeit gefunden. Gemeinsame Symposien und eine Reihe von Sammelbänden dokumentieren einen regen Gedankenaustausch unter den Historikern und Kulturwissenschaftlern. Sie belegen auch einen Paradigmenwechsel in der Einordnung frühneuzeitlicher staatlicher und institutioneller Entwicklungsprozesse. Der Verfasser, der an der Humboldt-Universität zu Berlin das Fachgebiet Skandinavistik/Kulturwissenschaft Geschichte und Kultur Nordeuropas lehrt und seit 2010 das dortigen Nordeuropa-Institut leitet, hat sich in den vergangenen Jahren sehr aktiv mit zahlreichen Einzelstudien an den Fachdiskussionen beteiligt. In seinen Forschungsarbeiten hat in eindruckvoller Weise die eingehende Beschäftigung mit der gesamten nordischen Geschichte und mit Grundfragen der baltischen und russischen Geschichte ihren Niederschlag gefunden. Die vorliegende Habilitationsschrift widmet sich den Bemühungen der schwedischen und später der russischen Regierung, nach einer Phase erfolgreicher Expansionspolitik zentralstaatliche Anliegen in den hinzugewonnen Randprovinzen zur Geltung zu bringen. Beide Staaten standen vor der vergleichbaren Aufgabe, einen eher zufällig zusammengesetzten „Konglomeratsstaat“ zu einem Einheits- und Zentralstaat, einem „verdichteten“ Staatsgebilde, umzuformen und die in den Randprovinzen überkommenen institutionellen, rechtlichen, gesellschaftlichen, kirchlich-religiösen und kulturellen Besonderheiten und lokalen Autonomien im gesamtstaatlichen Interesse auch gegen den Widerstand der Provinzialstände zu koordinieren und zu regulieren.

Für den Vergleich der jeweiligen Regierungspraxis hat der Verfasser ein reichhaltiges Anschauungsmaterial zusammengetragen. In den einzelnen Kapiteln wird eine sehr detaillierte Zusammenstellung der relevanten Sachverhalte in den Bereichen Territorialverwaltung, Recht und Justiz, Militär, Kirche und Sozialdisziplinierung, Bildung und Staatsdienst, Wirtschafts- und Finanzstaat, Sozialstruktur und sozialer Wandel geboten. Die Entwicklungsparallelen und auch die Unterschiede in den zeitversetzten Integrationsbemühungen werden sehr anschaulich im Detail sichtbar, weil sie sich im gleichen Umfeld, auf dem gemeinsamen ‚Schnittfeld‘ territorialer Expansion in den Ostseeprovinzen (Estland, Livland, Ingermanland, Ösel und altfinnische Gebiete um Wiborg und Kexholm), studieren lassen. Die Informationen zu den eingeleiteten Entwicklungsprozessen basieren überwiegend auf publizierten Quellen (vgl. das umfassende Quellen- und Literaturverzeichnis S. 451569). Nur in Einzelfällen wurden Originaldokumente aus den Archiven in Stockholm, Uppsala, Helsinki, Mikkeli, Tartu, Riga und Moskau herangezogen.

Bei allen offenkundigen Gemeinsamkeiten konstatiert der Verfasser im Detail doch erhebliche Unterschiede. Gemessen an der vergleichbaren Zielsetzung war der schwedischen Politik ein größerer Erfolg beschieden als der russischen. Russland konnte auch mit den späteren forcierten Russifizierungsmaßnahmen gegen Ende des 19. Jahrhunderts bei der Umsetzung einer strukturellen Integration der Randprovinzen nur Teilerfolge verbuchen. Der russischen Zentrale fehlte lange Zeit das geschulte Personal, um die Verwaltungshoheit der Provinzialstände abzulösen und auf die notwendige Mitwirkung des lokalen Adels verzichten zu können. Man hatte daher auch erheblich größere Mühe, als Gegengewicht zu den Provinzialständen andere soziale Gruppen zu mobilisieren und die adeligen Amtsträger und ihre Standesvertreter in ihrer durch Gutsherrschaft und Leibeigenschaft gesicherten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Vorrangstellung abzulösen. Eine relativ hohe strukturelle Ähnlichkeit erkennt der Verfasser vor allem in der Wirtschafts- und der Städtepolitik. Unter den gegebenen Voraussetzungen mussten beide Reichszentralen auch ein besonderes Interesse daran haben, durch eine Bauernschutzpolitik einen Machtausgleich zwischen den sozialen Gruppen zu versuchen. Dem Verfasser gelingt es, aus der intimen Kenntnis der schwedischen Geschichte und der schwedischsprachigen Spezialliteratur neue Einsichten für die Randstaatenpolitik Russlands im 18. und frühen 19. Jahrhundert zu gewinnen. Flüchtigkeitsfehler bei der Wiedergabe russischer Fachtermini und einige Ungenauigkeiten bei der Übersetzung russisch- und finnischsprachiger Buchtitel schmälern nicht den Wert der materialreichen Untersuchung.

Edgar Hösch, Würzburg

Zitierweise: Edgar Hösch über: Ralph Tuchtenhagen Zentralstaat und Provinz im frühneuzeitlichen Nordosteuropa. Wiesbaden: Harrassowitz, 2008. = Veröffentlichungen des Nordost-Instituts, 5. ISBN: 978-3-447-05522-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hoesch_Tuchtenhagen_Zentralstaat_und_Provinz.html (Datum des Seitenbesuchs)

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