Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), H. 3, S. 483-486

Verfasst von: Andreas Hilger

 

General Vlasov. Istorija predatel’stva. V 2 tomach. V 3 knigach.

T. 1: Nacistskij proekt „Aktion Wlassow“. Otv. red. A. N. Artizov. Moskva: Rosspėn, 2015. 1158 S. ISBN: 978-5-8243-1956-9.

Т. 2, kn. 1: Iz sledstvennogo dela A. A. Vlasova. Otv. red. A. N. Artizov / V. S. Christoforov. Moskva: Rosspėn, 2015. 854 S. ISBN: 978-5-8243-1958-3.

T. 2, kn. 2: Iz sledstvennogo dela A. A. Vlasova. Otv. red. A. N. Artizov / V. S. Christoforov. Moskva: Rosspėn, 2015. 712 S. ISBN: 978-5-8243-1960-6.

Im Kalten Krieg stellte die Geschichte der so genannten Vlasov-Armee ein hoch umstrittenes Politikum dar. Dabei folgte die sowjetische Historiographie genau der Ein­schätzung der sowjetischen Politik. Hier wurden die Aktivitäten des Generals in deutscher Kriegsgefangenschaft als ein ebenso gefährliches wie mörderisches Verbrechen an Staat und Völkern der UdSSR beschrieben. Im Westen war das Meinungsbild bunter. Mitunter zeichneten Autoren die Zusammenarbeit von Andrej Vlasov mit der Wehrmacht als reinen Akt legitimen Widerstands gegen das Stalin-System. Nach 1989 blieb es bei gegensätzlichen Deutungen, zumal nun aufgrund neuer Archivmöglichkeiten Stalins erbarmungslose Haltung gegenüber sowjetischen Kriegsgefangenen und Repatriierten viel deutlicher zu Tage trat als zuvor. Damit erschienen deren Handlungsoptionen in Gefangenschaft noch weiter eingeschränkt, ihre Behandlung nach dem Krieg generell noch willkürlicher.

Vor diesem allgemeinen Hintergrund erhebt die vorliegende Dokumentation den Anspruch, mit über 700 Dokumenten aus 14 russischen und nicht-russischen Archiven – vom Zentralarchiv des Föderalen Sicherheitsdienstes über das ehemalige Moskauer Parteiarchiv und das bundesdeutsche Militärarchiv bis hin zu den Washingtoner National Archives oder dem Archiv der Hoover-Institution – die Frage der historischen Bewertung Vlasovs und seiner Mitstreiter abschließend klären zu können. Juristisch ist der Schlussstrich unter den Fall Vlasov längst gezogen. Am 1. November 2001 entschied das Militärkollegium des Obersten Gerichts der Russischen Föderation, dass seine Vorgängerinstitution den General und elf andere Führungspersönlichkeiten der Russischen Befreiungsarmee bzw. des Komitees zur Befreiung der Völker Russlands am 1. August 1946 zu Recht unter anderem wegen Vaterlandsverrats, Terror und Sabotage zum Tode verurteilt hatte. Allein ein früherer Anklagepunkt, wonach Vlasov sich auch der gegenrevolutionären Propaganda schuldig gemacht habe, wurde 2001 aufgrund der nun geltenden Rehabilitierungsgesetze aufgehoben. Im übrigen hatte Michail Gorbačev, in dessen Amtszeit die ersten großflächigen Rehabilitierungen von Opfern der Stalinära fallen, sich noch im Mai 1990 veranlasst gesehen, dem hingerichteten Vlasov staatliche Anerkennun­gen aus der Zeit vor seiner Gefangenschaft abzuerkennen.

Das reichhaltige Archivmaterial der Bände ist vielfach zum ersten Mal publiziert und oft bislang unzugänglich gewesen. Es wird im Ganzen mit großer Genauigkeit und mit insgesamt ausreichender Kommentierung präsentiert. Der inhaltliche Fokus liegt ganz auf deutscher Gefangenschaft und sowjetischer Haftzeit. Sowjetisch-westliche Auslieferungsverhandlungen für einzelne Gefangene etwa oder die allgemeine amerikanisch-britische Politik gegenüber diesen Gruppen werden nicht im Detail beleuchtet.

Hinsichtlich der Person Vlasovs lässt sich sein Weg von der Gefangennahme bis zur Hinrichtung anhand deutscher und sowjetischer Archivalien nachverfolgen. Für Vlasovs Mitverurteilte legen die Herausgeber in aller Regel Unterlagen der sowjetischen Ermittlungsverfahren aus der Nachkriegszeit vor. In diesen Untersuchungen wurden die Aktivitäten der Angeklagten in der Gefangenschaft offenbar vor allem aus Aussagen und Gegenüberstellungen und höchst selten aus schriftlichen Beweisen rekonstruiert. Das Zustandekommen der Aussagen der Häftlinge ist nicht über jeden Zweifel erhaben. Allgemein war in Stalins UdSSR die Folter ein erlaubtes, mitunter gar ein empfohlenes Instrument der Ermittlungsorgane. In den Protokollen lässt sich an verschiedenen Stellen nachlesen, dass die Verhörten Sachverhalte oder Bewertungen einräumten, nachdem die Befrager mehrmals nachdrücklich ihre Sicht der Dinge vorgegeben hatten. Den Vernehmungsoffizieren galten beispielsweise die unmenschlichen Verhältnisse in deutschen Kriegsgefangenenlagern nicht als akzeptable Begründung dafür, dass sich Gefangene für antisowjetische Propaganda oder Truppen meldeten. Die Ermittlungsbeamte wollten vielmehr ideologisch-politische Motive hören. Schließlich erscheinen in einigen Fällen bei über zwei Stunden Verhör ein bis zwei Seiten Protokolltext als sehr gering. Ob derlei Beobachtungen Indizien für punktuellen oder kontinuierlichen Druck jedweder Art sind, wird sich nicht mit letzter Sicherheit entscheiden lassen. Außerdem lassen sich derlei Auffälligkeiten nicht in allen Verhörserien finden. Die Ermitt­ler haben insgesamt die Aktivitäten der Verhörten in der Kriegsgefangenschaft recht genau rekonstruiert. Ob die Untersuchungsbeamten hingegen Motive, Ziele und Hintergründe der Akteure einwandfrei erfasst haben, darüber lässt sich anhand der vorliegenden Akten letztlich nur spekulieren.

Gerade General Vlasov hat offenbar von Beginn an sehr detailliert und ausführlich ausgesagt. Dies korrespondiert mit seinem Gesprächsverhalten in deutscher Gefangenschaft. Hier gab General Vlasov früh zu erkennen, dass er bereit war, sich auf deutscher Seite zu engagieren. Ihm ging es demnach um den Kampf gegen die, wie es ein Aufruf vom 10. September 1942 formulierte, „Stalin’sche Clique“ in Moskau, nicht gegen Staat und Bevölkerung der UdSSR schlechthin. Die Dokumente zeigen eindrucksvoll, dass diese spezifische deutsch-russische Zusammenarbeit immer höchst asymmetrisch blieb, was Vorstellungen über Ausmaß und Zielsetzung anbelangte. In den verschiedenen Dienststellen des Reichs, die sich mit der sogenannten Ostpolitik befassten, war man sich keineswegs darüber einig, wie man mit Vlasovs Angebot umgehen sollte. Lange Zeit verhinderte der fanatische Rassismus Hitlers ohnehin eine effektivere Nutzung derjenigen sowjetischen Gefangenen, die sich, aus welchen Gründen auch immer, zur Kooperation bereitfanden. Aufstellung und Einsatz von Kampfverbänden aus sowjetischen Kriegsgefangenen erfolgten schließlich zu halbherzig und zu spät, als dass sie das militärische Geschehen maßgeblich hätten beeinflussen können. „Wir führen Krieg im Osten“, hatte Joseph Goebbels bereits im Juni 1943 kritisch notiert, „aber wir verfolgen keinerlei Politik“ (S. 349).

Unter den Axiomen der NS-Ideologie war indes auch keine wirkliche Kooperationspolitik mit russischen Gefangenen denkbar. Die abgedruckten Dokumente zeigen erneut, dass beispielsweise die deutsche Ideologie auf der einen sowie Motive und Endziele kooperationsbereiter Kriegsgefangener einschließlich Vlasovs auf der anderen Seite im Kern unvereinbar waren und keine Basis für eine solide Zusammenarbeit boten. Vlasovs Unterstützung der deutschen Kriegsführung sollte nicht bedingungslos sein. Er erwartete im Gegenzug, dass eines neues, großes Russland Gelegenheit zur selbständigen Entwicklung erhielt. Diese Konzeption war angesichts der deutschen Grundhaltung vollkommen unrealistisch. Ob Vlasov ihr so lange aus Naivität oder aufgrund einer Art von stillem Selbstbetrug anhing, das muss dahingestellt bleiben. Niedrigere Dienstränge unter den Gefangenen zogen ihre eigenen Schlüsse aus dem täglichen deutschen Umgang mit Russen. Im Ernstfall setzten Angehörige der anti-stalinistischen Kampftruppen mehrfach darauf, wenn möglich die Fronten zu wechseln.

Daneben lief ein besonderes deutsch-russisches Kampfbündnis auch den Vorstellungen und Erwartungen vieler nicht-russischer Emigrationskreise und Kämpfer entgegen, mit denen Deutschland ebenfalls operierte. In den Zeiten, in denen sich die Berliner Spitzen stark fühlten, schien es ohnehin unnötig zu sein, Zugeständnisse an nationale Gruppen zu machen. Zur Zeit des endgültigen deutschen Niedergangs verhinderte dann die kompromisslose Zerstrittenheit dieser Gruppen untereinander, dass eine transnationale Einheitsfront unter deutscher Führung entstand.

Die sowjetische Reaktion auf die deutsche „Aktion Vlasov“ war eindeutig. Hier hielt man sich nicht lange mit der Suche nach Motiven und Zielen der Gruppe auf. Vor dem Hintergrund des generellen Misstrauens der Moskauer Führung gegen alle sowjetischen Kriegsgefangenen wurden Vlasovs Aktivisten als besonders niederträchtige Verräter betrachtet. Angesichts der drohenden Herausforderung durch eine potentielle Großbewegung anti-stalinistischer Gefangener kursierten bald Moskauer Mordbefehle und -pläne gegen den General. Auf die Rote Armee wirkte eine starke Gegenpropaganda gegen die so genannten „Vlasovisten“ ein. Tatsächlich zeigten Rotarmisten im Kampf mit ihren ehemaligen Mitsoldaten manches Mal keine Gnade. Schließlich beobachteten Geheimdienste und Partisanen genau die Aktivitäten der vermeintlich prodeutschen Kriegsgefangenen und registrierten, auch mit Hilfe von eingeschleusten Agenten, deren Propaganda, Kampfeinsätze und Verbrechen.

Nach 1945 schrieben die sowjetischen Ermittlungen die Interpretation vom politischen und Volksverrat fort, die seit 1942/1943 zum Standard geworden war. Diese Wertung erhielt im eskalierenden Kalten Krieg eine weitere Dimension. Einige hochrangige Vlasov-Mitarbeiter wurden erst 1946 von den amerikanischen Behörden an die UdSSR ausgeliefert. In diesen Fällen verwendete man in Moskau besondere Mühe darauf, ihre kurzfristige Zusammenarbeit mit US-Behörden und Geheimdiensten genau aufzuklären.

Nach Meinung des zuständigen Staatsministers für Sicherheit, Abakumov, waren die Ermittlungen gegen die Spitzen der Vlasov-Bewegung im Januar 1946 so weit gediehen, dass man sie aburteilen konnte. Offenbar wartete das Politbüro jedoch erst noch die anstehenden Auslieferungen durch die US-Behörden ab, um das Gesamtbild im Prozess abzurunden. Warum sich die politische Führung gegen Abakumovs Vorschlag entschied, einen begrenzt öffentlichen Prozess durchzuführen, wird in den Dokumenten nicht erkennbar. Möglicherweise fürchtete die Moskauer Führung, selbst durch teilöffentliche Verhandlungen der Kriegskollaboration von Gefangenen Schwächen der eigenen Herrschaft offenzulegen, zuzugeben oder der Diskussion auszusetzen. Damit vermied man zugleich die Gefahr, mit einem solchen Verfahren unzufriedenen Rückkehrern, Veteranen oder Nationalitäten noch einmal einen Anknüpfungspunkt und Fokus zu liefern.

Wie eingangs erwähnt, halten die Herausgeber mit den hier zusammengestellten Dokumenten die historische Rolle und Bedeutung Vlasovs und seiner Mitgefangenen für eindeutig geklärt. Der Untertitel der Bände, die Geschichte eines Verrats, ist durchaus programmatisch gemeint. Demgemäß liest sich die Einleitung als klare geschichts- und erinnerungspolitische Aussage. Mit Recht verweisen die Herausgeber darauf, dass die – hier wertfrei so bezeichnete – Kollaboration mit Deutschland im Zweiten Weltkrieg ein gesamteuropäisches Phänomen darstellte. Ausmaß und Gewicht der „örtlichen Spezifika“ dieser Kollaboration wird seitens der Herausgeber nur recht gering veranschlagt (S. 9). In diesem Gesamtbild liegt der Fokus auf dem Eidbruch des Generals und seiner Gefährten sowie auf ihrer bewussten und aktiven Tätigkeit für die deutsche Militär- und Besatzungsmaschinerie: „Durch ihre Tätigkeit“, so das Fazit, „verlängerten Vlasov und seine Mitkämpfer das Leben des nazistischen Regimes, das genau die Russen tötete, über die der General sich so ‚sorgte‘.“ (S. 24) Es ist fraglich, ob sich allein aus dieser Perspektive die ganze Geschichte der russischen militärischen Kollaboration erzählen lässt. Das stalinistische System hat eine Rolle für Motive und Ausmaß der sowjetischen Kollaboration gespielt. Auch die hier präsentierten Dokumente und andere Archivbestände verweisen darauf, dass persönliche Motivlagen und Perspektiven der Akteure und ihrer Mit- und Gegenspieler, faktische Möglichkeiten und Auswirkungen ihrer Aktivitäten, längerfristige Vor- und Nachgeschichten ihres Handels wesentliche Aspekte des historischen Geschehens darstellen. Sie lassen sich durch juristische, politische oder moralische Schuldbegriffe und -zuweisungen allein nicht ausreichend analysieren.

Andreas Hilger, Hamburg

Zitierweise: Andreas Hilger über: General Vlasov. Istorija predatel’stva. V 2 tomach. V 3 knigach. T. 1: Nacistskij proekt „Aktion Wlassow“. Otv. red. A. N. Artizov. Moskva: Rosspėn, 2015. 1158 S. ISBN: 978-5-8243-1956-9. Т. 2, kn. 1: Iz sledstvennogo dela A. A. Vlasova. Otv. red. A. N. Artizov / V. S. Christoforov. Moskva: Rosspėn, 2015. 854 S. ISBN: 978-5-8243-1958-3. T. 2, kn. 2: Iz sledstvennogo dela A. A. Vlasova. Otv. red. A. N. Artizov / V. S. Christoforov. Moskva: Rosspėn, 2015. 712 S. ISBN: 978-5-8243-1960-6.

http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hilger_SR_General_Vlasov.html (Datum des Seitenbesuchs)

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