Lorenz Erren Selbstkritik und Schuldbekenntnis. Kommunikation und Herrschaft unter Stalin (1917–1953). R. Oldenbourg Verlag München 2008. 405 S. = Ordnungssysteme – Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, 19.

In fünf thematisch und chronologisch angelegten Kapiteln stellt Lorenz Erren, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Moskau, seine Überlegungen zu einem zentralen Aspekt des Stalinschen Ordnungssystems – dem Prinzip von Kritik und Selbstkritik und dem damit zusammenhängenden Phänomen des Schuldbekenntnisses – zur Diskussion. Der vorliegenden Arbeit liegt die im Oktober 2003 von der Philosophischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen angenommene Dissertation des Autors zugrunde. Das erklärt, wieso die seit Sommer 2004 erschienene Literatur nicht mehr ausgewertet werden konnte.

Lorenz Erren, der die Möglichkeit hatte, in Voronežer und Moskauer Archiven zu recherchieren, strebt eine „Rekonstruktion der Situation“ an, unter der Menschen in der Sowjetunion gezwungen waren, sich öffentlich zu beschuldigen. Mit seiner Arbeit will er eine Forschungslücke schließen, denn bislang existierte keine Monographie über die Praxis der „Selbstkritik“. „Zunächst frappiert die Uneinigkeit der Forscher darüber“, stellt Erren in der ebenso informativen wie knappen Einleitung fest, „ob es in der sowjetischen Gesellschaft individuelle Schuldbekenntnisse überhaupt gab und inwiefern sie wichtig waren. […] Auch auf der Ebene der historischen Begrifflichkeit dauert die Verwirrung an.“ (S. 22)

Errens Anliegen besteht darin, den „Platz zu bestimmen, den das individuelle Schuldbekennt­nis zur Stalinzeit in der Ideologie, der politischen Kultur und im gesellschaftlichen Alltag der Sowjetunion eingenommen hat“. (S. 23) Niklas Luhmanns Anregung über die Ausdifferenzierung von Kommunikationsprozessen folgend, bezeichnet Erren den „Raum, in dem die Akteure des sowjetischen Systems miteinander kommunizierten“ als „Öffentlichkeit“. (S. 29) Neben der „offiziellen Öffentlichkeit“ (z.B. Parteiversammlungen, Printmedien) nimmt der Verfasser die „nichtoffizielle Öffentlichkeit“ (z.B. Warteschlangen, Reisende im Eisenbahnwaggon) in den Blick.

Im ersten Kapitel „Der bolschewistische Abstimmungskörper als kollektive Geisel“ werden der Zeitraum von 1917 bis 1928 und das „Modell einer spezifischen Öffentlichkeit“ untersucht. Nach Lenins Tod setzten die im Oktober 1923 konzipierten, gegen die Trotzkisten gerich­teten Säuberungen massiv ein. 1925/1926 mündeten die Schuldbekenntnisse immer häufiger in Reueerklärungen. Diese wichen später Ab­schwörungsritualen.

Im zweiten Kapitel erläutert Lorenz Erren den Ursprung und die Wirkung des Schlagwortes „Kritik und Selbstkritik“, dessen Umsetzung zunächst ohne Schuldbekenntnis auskam. Im Zuge der Durchsetzung der Selbstkritik spielte das Subjekt – auch sprachlich – keine Rolle mehr. Selbstkritik, so eine seiner Thesen, entwickelte sich nicht aus einem Parteiritual heraus, „sondern aus den praktischen Formen des Kontroll- und Beschwerdewesens“ (S. 100). Die Selbst­kritik-Kampagne vergleicht Erren mit einem „gesamtgesellschaftlichen Projekt“. In diesem Zusammenhang wird angedeutet, dass Hinweise auf derartige Kampagnen selbst in den zwischen 1933 und 1936 in den Gulags herausgegebenen Zeitungen nachweisbar sind (S. 131, Fn. 121).

Das dritte Kapitel handelt von den Rahmenbedingungen der Gleichschaltung des Geisteslebens im Jahre 1930 und der Rolle Stalins dabei. Die Praxis der Schuldbekenntnisse wurde zu einem integralen Bestandteil des „Selbstkritik“-Diskurses. Erren skizziert in diesem Kapitel die Eingriffe des Politbüros und jene „spezifischen Formen der politischen Streitkultur, die sich bis 1931 im Milieu der Parteiintelligenz herausgebildet hatten“ und die seiner Meinung nach nicht einfach als Folgeerscheinung einer zentral gesteuerten Politik angesehen werden können (S. 141). Er muss sich dabei auf einzelne Episoden beschränken, denn die Bestände der zuständigen Abteilung für Agitation und Propaganda im Parteiarchiv in Moskau sind „größtenteils verschollen“ (Anm. 17, S. 141). „In einer Atmosphäre der ständigen Intrigen und Gruppenkämpfe wurden Loyalitäts- und Distanzierungserklärungen zu einem alltäglichen und selbstverständlichen Orientierungsmittel“ (S. 146). Von Selbstkritik im Sinne von Fehlereingeständnis kann seit August 1929 gesprochen werden.

1931 ändert sich die Situation. Selbstkritik erfährt eine Bedeutungsverschiebung und wird zunehmend in den etablierten älteren „Säuberungs“-Diskurs integriert. Das zentrale Anliegen des Autors besteht im Nachweis des Doppelcharakters der stalinistischen Öffentlichkeit als Abstimmungskörper und als pädagogische Anstalt. Dies wird im vierten Kapitel in vier Fallstudien über Entscheidungsträger, die loyale Sowjetbevölkerung, die Parteibasis sowie Literaten und Wissenschaftler versucht. Es werden Schuldbekenntnisse politischer Entscheidungsträger skizziert, die Reaktion der Sowjetbevölkerung wird eingefangen und es wird diskutiert, wie sich die Parteibasis sowie Literaten und Wissenschaftler zur geforderten Reue und Selbstkritik verhielten.

Gegenstand des fünften Kapitels sind die Schauprozesse, denn auch die Gerichtsverhandlungen in der Sowjetunion waren „ein wichtiger Teil des öffentlichen Lebens“. Es soll danach ge­fragt werden, formuliert Erren sein Anliegen, „wie sich die erzwungenen Geständnisse zur ‚Selbstkritik‘, zu oppositionellen Kapitulationen und zu pädagogischen Schuldbekenntnissen ver­hielten“ (S. 327).

Da die Archive, in denen die „Urtexte“ der Moskauer Schauprozesse von 1936 bis 1938 lie­gen, nie geöffnet worden sind, fällt das fünfte Kapitel am kürzesten aus. Bei den veröffentlichten „Prozessstenogrammen“ handelt es sich um von der ersten bis zur letzten Seite manipulierte Texte, die einer vom Verfasser angestrebten inhaltlichen Analyse kaum zugrunde gelegt werden können. Einige dieser Stenogramme sind in den Jahren der Perestroika in Russland als unveränderte Nachdrucke der Veröffentlichungen aus den 1920–30er Jahren erschienen. Nur in Ausnahmefällen ist dokumentiert worden, wie gravierend die „redaktionellen Eingriffe“ in die Aussagen und Geständnisse der Angeklagten waren. Die Rekonstruktion des „Letzten Wortes“ von Nikolaj Bucharin im Prozess von 1938 gehört dazu. Es ist ein Beispiel für das Umschreiben der in den Aussagen und Geständnissen der Angeklagten enthaltenen Selbst­kritik zum Schuldbekenntnis.

„Das Regime hatte Kommunikationsformen, die ursprünglich zur Partizipation eingeladen hatten“, fasst Erren in Anlehnung an Foucault im Abschnitt „Sozialistische Öffentlichkeit und Stalins Panoptikum“ seine Ergebnisse zusammen, „in Techniken der Sozialkontrolle verwandelt, welche die Sowjetbürger gleichzeitig auf die Täter- wie die Opferrolle vorbereiteten“ (S. 383).

Wladislaw Hedeler, Berlin

Zitierweise: Wladislaw Hedeler über: Lorenz Erren: Selbstkritik und Schuldbekenntnis. Kommunikation und Herrschaft unter Stalin (1917–1953). R. Oldenbourg Verlag München 2008. = Ordnungssysteme – Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, 19. ISBN: 978-3-486-57971-0, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hedeler_Erren_Selbstkritik.html (Datum des Seitenbesuchs)